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Im Interview mit TikToks Musikchef: Was sind die nächsten Musiktrends und wie wirst du selbst zum Star?

Von Retro-Song bis Radio-Hit, Artist-Hype bis Tanztrend: Welch großen Einfluss TikTok auf unsere Playlists hat, ist längst klar. Aber kann man Sound-Trends überhaupt voraussagen? Wer behält den Überblick darüber, wem der Credit für einen Trend gebührt? Und wie schaffe ich es selbst zum viralen Star-Status? Diese Fragen beantwortet Michael Kümmerle, Musikchef von TikTok Deutschland.

Wer denkt, zu diesem einen, bestimmten Song gäbe es noch kein TikTok, sollte die For-You-Page aktualisieren. Während auf auf der einen immer noch die Kinderband Backyardigans „Into The Tick of It” marschiert, stapft Saweetie mit den Worten „Let’s go!” auf einer anderen längst in Richtung Comedy. Ein wirkliches System gibt es dabei nie  – je willkürlicher, desto besser der Musiktrend. Michael Kümmerle findet, dass alle Trends in der Community der User*innen entstehen. Er selbst ist Musikchef von TikTok Deutschland und damit verantwortlich dafür, wohin die Reise der viralen Sounds geht. Wie aber wird ein vergessener Song zum Trend? Wer behält den Überblick darüber, wer einen Trend oder Sound erschaffen hat?  Und wenn scheinbar alles möglich ist – wie können es kleine, unabhängige Acts durch Sound-Snippets zum großen Erfolg bringen? In 5 Teilen beantwortet Kümmerle hier unsere Fragen und gibt Ausblick auf die TikTok-Musiktrends 2022.

1. Wie wird ein Song oder Sound eigentlich zum Trend?

NYLON Germany: Egal ob Retro-Revival oder Breakthrough-Hit: Welche 3 Kriterien muss ein Song erfüllen, um auf TikTok zum Hype zu werden?
Michael Kümmerle:
Die gibt es so leider nicht. Wir können Künstler*innen und Labels aber schon in einem sehr frühen Stadium nennen, was sie als Nächstes tun sollten. Das ist zum einen das Nutzen der Plattform und der Community, der Features und Effekte. Die Funktionen „Stitch” oder „Duet” sind da schon ein einfaches Beispiel. Künstlerinnen wie Loi oder Aylo sind daraus gewachsen, dass sie extrem schnell eine Fanbase aufgebaut und diese Community aber auch regelmäßig bespielt haben – zum Teil wurden sie darüber entdeckt und hatten noch keinen Plattenvertrag. Loi hat irgendwann mal ein Backrezept gesungen. Das war so fantastisch – wenn du dir heute noch das Video anschaust, sagst du: Ja, ich möchte noch mehr von der Künstlerin hören.

@loimusic @sarkastika73 antworten SEND THIS TO SOMEONE WHO IS ALWAYS HUNGRY!! 🥞 #loimusic #pancakes ♬ Originalton – loi

So ziemlich alles scheint ja willkürlich zu verlaufen, bevor ein Sound zum Hype wird. Was ist dann überhaupt die Aufgabe der Musikabteilung von TikTok? Wie bereitet ihr Trends vor, wie begleitet ihr sie?
Bei uns liegt die Grenze, ab der etwas zum Trend wird, vielleicht niedriger als bei anderen Plattformen. Wenn ein Thema diese Grenze erreicht, nehmen wir das redaktionell auf. Das heißt: Wenn uns der Sound und Künstler*in gefällt – und das ist frei gewählt – unterstützen wir die Künstler*innen und nehmen uns heraus, die Tracks und Snippets zu featuren oder in Playlists zu supporten. Wenn es funktioniert und der Trend immer größer wird, suchen wir spätestens dann den Kontakt mit dem*der Künstler*in oder dem Label und besprechen weitere Zusammenarbeiten.

Wenn eine Redaktion die Songs und Sounds auswählt, werden die Ergebnisse auch von der Meinung dieser Redaktion beeinflusst. Wer trendet, wird davon gesteuert, was die Musikabteilung von TikTok selbst gerade gut findet und pushen möchte.
Wir versuchen natürlich, das extrem minimiert zu halten und schauen eher auf unsere Gruppen von User*innen und darauf, was auf der Plattform entsteht und was in den Communities. Es gab zum Beispiel auch den sehr interessanten Trend „Landleben”, der aus der Farming-Community entstanden ist. Junge Landleute haben ihre Landwirtschaftsgeräte gezeigt und dabei immer wieder dieselben Sounds verwendet – und so wurden diese zum extremen Trend. Das zeigt, wie divers die Communities sein können.

Musik-Shootingstar Zoe Wees performte vor einer Woche im Rahmen des Reeperbahnfestivals bei einem TikTok-Event in ihrer Heimatstadt Hamburg.

2. Welche Chance haben kleine Acts ohne Plattenvertrag?

Mit den größten Musiklabels hat TikTok ja bereits Linzenzverträge unterzeichnet. Dabei geht es erst einmal um einfache Nutzungsrechte, aber es läge die Vermutung nahe, dass durch solche Deals eben vor allem große Artists gefördert werden. Welche Chance haben kleine, unabhängige Acts oder Newcomer*innen?
Du kannst es völlig unabhängig von einer Labelpartnerschaft schaffen. Wenn ein*e Künstler*in sich wünscht, dass ein Label oder andere große Partner*innen auf ihn*sie aufmerksam wird, befeuert sich das natürlich. Wir schauen auch bewusst dorthin, wo keine großen Partner*innen dahinterstehen. Das heißt, wir gehen in alle Genres – auch wenn sich das old School anhört – wie zum Beispiel die Klassik. Gestern haben wir das Konzert einer jungen Pianistin gestreamt. Es wäre fatal, wenn wir nur einen begrenzten Ausschnitt auf die Plattform bringen würden.

Es gehört aber vermutlich auch ein bisschen Glück dazu, außerdem ist immer noch ein Algorithmus am Werk. Wir haben in einem Interview die Sängerin Fousheé gefeatured, die mit „Deep End” einen der größten TikTok-Trends des vergangenen Jahres hatte. Vorher hat sie andere Musik gemacht, „Deep End” wurde erst durch einen Remix zum Trend. Da waren ja im Hintergrund vermutlich auch noch andere Prozesse am Werk.
Wir würden gerne selbst Trends kreieren können, das kann aber keine Plattform – du brauchst dazu immer die Community. Du brauchst Personen, die einen Trend nutzen und wirklich feiern, sonst kann nichts entstehen. In den Trends vom letzten Jahr haben Künstler*innen Snippets von Songs direkt aus dem Studio veröffentlicht. Davon kannst du Remixes veröffentlichen und vielleicht wieder eine ganz andere Community ansprechen. Das baut schon aufeinander auf. Wenn dann der Druck von traditionellen Medien kommt, ist die Chance deutlich höher, dass es trendet, als wenn du einfach am Release-Tag was raushaust und hoffst, dass es zum Trend wird. Man muss sich nur überlegen: Was kann ich wann anteasern und welche Features kann ich dafür verwenden, um mit der Community zu interagieren? Live-Videos sind zum Beispiel ein super gutes Tool dafür.

@kungfou proud to finally be able to give this gem. Deep End out now! 🥺 #DeepEnd #foushee ♬ original sound – Fousheé

3. Jeden Tag ein neuer Trend – wie behält TikTok den Überblick, wer was erschaffen hat?

Diskussionen um Credits und Copyrights gibt es auf TikTok – ähnlich wie bei anderen Plattformen – immer wieder. Dabei kann es um einfache Ideen gehen, oder vielleicht eine Choreographie. Bekannte Beispiele sind der Streik Schwarzer Creators, die nicht für ihre Ideen kreditiert werden und weniger Hype erfahren, weil andere (weiße) Creators ihre Trends übernehmen – hier vermischen sich die Debatten um Credits auch mit solchen um kulturelle Aneignung. Eines der bekanntesten Beispiel war die Diskussion um Addison Rae, die in die Show von Jimmy Kimmel eingeladen wurde, um Tanztrends zu zeigen. Die eigentlichen Köpfe hinter diesen Trends aber waren Schwarze Creators, die zuerst nur in einer Randnotiz benannt wurden. Es kann bei solchen Diskussionen aber auch um Sounds gehen: Unsere Freundebuch-Interview-Partnerin Fousheé hatte ebenfalls Ärger damit, den verdienten Erfolg für ihre Musik zu feiern. Als ihr Song „Deep End” im Remix von Sleepy Hollow viral ging, war ihr Name zuerst nirgends zu finden – bis ihre Fan-Community durch solidarische Aktionen darauf aufmerksam machte.

Wie stellt TikTok sicher, dass Creators die Lorbeeren bekommen, die sie verdienen?
Wir haben eine Rechtslage, der wir folgen müssen. Wenn von einer*einem Künstler*in, Label oder Creator Inhalte angeliefert werden, und die im Vorfeld unrechtmäßig verwendet werden, haben wir die rechtlichen Mittel, um sie von der Plattform zu nehmen und zu handeln. Wenn die Künstler*innen es gutheißen, können wir im Nachgang aber das Miteinander verknüpfen und klarstellen, dass es ein Remix eines Originalsongs ist, sodass beide Songs gemeinsam auf den*die Künstler*in und die Videoklicks einzahlen.

Das heißt aber, wie bei Fousheé muss die Community auf solche Fehler aufmerksam machen oder es muss auf andere Art genannt und bemängelt werden – und es gibt keinen gesonderten Vorgang, der das im Vorfeld überprüft?
Nein, das ist aber glaube ich auch bei anderen Plattformen normal. Es gibt natürlich eine Datenbank, die all das checkt. Wir bekommen ja Musik von unseren Partnern angeliefert und wenn die in der Datenbank sind, wird relativ schnell geprüft, ob ein Snippet auch rechtmäßig verwendet wird. Wenn nicht, müssen wir tätig werden.

4. Wie stark kann die Community beeinflussen, was in die Charts kommt?

Ein ganz aktuelles Beispiel für den Einfluss von Trending Sounds auf einen Release ist der Song „Wildest Dreams” von Taylor Swift. Zwar steht hinter dem Release vermutlich eine große Marketingstrategie, es könnte aber auch sein, dass sich Taylor schlicht aufgrund des Trends entschieden hat, den Song zu veröffentlichen. Das heißt, im Grunde könnte jeder Song wieder zum großen Hit werden. Damit könnten auch alte Tracks auftauchen, deren Lyrics, Videos oder Inhalte heute anders wahrgenommen werden. Entscheiden darüber, ob sie zum Trend werden, können auch interne Moderator*innen von TikTok, die die Inhalte prüfen. Die Moderations– oder Zensurregeln in der App wurde in der Vergangenheit allerdings auch immer wieder selbst kritisiert.

@taylorswift Burnin’ it down 🔥 #wildestdreamstaylorsversion #slowzoomeffect #swifttok ♬ original sound – Taylor Swift

Im Fall Taylor Swift hat der Trend um „Wildest Dreams” vielleicht beeinflusst, wann sie den Song veröffentlicht. Wenn allein die Communities Trends vorgeben sollen, führt das bald dazu, das wir als User*innen in Zukunft noch mehr Kontrolle haben und mitbestimmen, was ein*e Künstler*in veröffentlicht?
Ich bringe dafür mal andere Beispiele, die ähnlich sind zu dem von Taylor. Dua Lipa hat sich zum Beispiel die Community zu Nutzen gemacht und zusammen mit vielen Creators das „Levitating”-Video gedreht und sie auch im Nachhinein eingebunden. Es gibt also die Möglichkeit, die App zu nutzen, aber auch die Creators und Community, um Inhalte weiter bearbeiten zu lassen und diese wiederum bei dir als Künstler*in einzuarbeiten. Du kannst auch im Vorfeld eine Record-Release-Party im Livestream feiern, das hat zum Beispiel Loredana gemacht. Anne-Marie hat auch ein gutes Beispiel gezeigt, indem sie ihr gesamtes Album im Vorfeld als Sound-Snippets veröffentlicht hat. Das ist ein guter Trendindikator – zu sehen, welche Snippets oder Songs von der Community aufgegriffen werden. Dementsprechend könnte sie als Künstlerin ihre Single-Strategie daran anpassen. Wenn ein*re Künstler*in im Vorfeld so weit gehen will, könnte die Plattform eine große Hilfe sein.

Jede Sekunde können User*innen auf der Plattform neue Sounds und Artists entdecken und deren Songs auf anderen Plattformen idealerweise treu bleiben. Bei täglich wechselnden Trends wird das ganz schön viel. Wie schaffen es TikTok-Stars, mehr zu bleiben als ein One-Hit-Wonder?
Hier passt das Beispiel vom Trend zu „Rasputin” von der Band Boney M. Wir kennen das aus den letzten Jahren: Du trendest irgendwo, dann schießen deine Streams nach oben und deine monatlichen Hörer*innen steigen. In relativer kurzer Zeit droppt das dann aber auch wieder, heutzutage geht das leider relativ schnell. Im besten Fall hast du als Künstler*in dann aber ein neues Niveau erreicht, auf dem du stehen bleibst. Wir haben mit einem Marktforschungsunternehmen eine Studie in europäischen Ländern in Auftrag gegeben, in der herauskam, dass 80% der Nutzer*innen die Plattform verwenden, um Musik zu entdecken. Die Hälfte davon markiert sich in dem Fall den Song, das Profil oder folgen dem*der Künstler*in, schaut sich die Artists aber auch woanders an. Wenn wir das mit einer kulturellen Vielfalt vereinigen können – ohne dass TikTok dabei im Mittelpunkt steht – haben wir einen Ausweg aus einer Musik-Monokultur, die in den letzten Jahren entstanden ist. Dann können auch Jazz-Künstler*innen da draußen wieder ihre großen Konzerte spielen.

@bigmike_675 Was asked to do this dance #fyp ♬ Rasputin (Single Version) – Boney M.

Die Beispiele für alte Songs, die durch TikTok ein zweites Leben bekommen haben, sind endlos. Nicht jeder alte Song passt aber lyrisch oder inhaltlich ins Hier und Jetzt. Welche Verantwortung übernimmt TikTok, wenn mal ein problematischer Song zum Trend wird, oder kontroverse Künstler*innen?
Wir moderieren ja ohnehin ganz streng entlang unserer Guidelines und Community-Richtlinien. Das würden wir also dabei ganz klar vor– und rausnehmen, wenn es zum Beispiel um Hate Speech geht. Dann würden wir diese Trends nicht aufgreifen oder so moderieren, dass wir sie nicht in den Mittelpunkt von unserem redaktionellen Programm stellen müssen oder werden. Außerdem gibt es auch hier eine klare Rechtslage, TikTok ist kein wilder Westen. Dabei sind wir sehr streng, denn wir wollen die Diversität unserer Gesellschaft feiern, beschützen und hervorheben. Wir wollen nicht in einen Bereich rutschen, in dem Hate Speech, Gewalt oder Frauenverachtung über Gebühr gefeiert werden. Man muss das aber auch immer in den entsprechenden kulturellen Kontext setzen. Wir wissen ganz genau, dass es ein schmaler Grat ist und es manche Themen gibt, die im Hip Hop anders behandelt werden als im Pop oder in der Klassik. Da müssen wir sehr genau hinschauen.


Auch Theo Junior und die Band Blond traten in Hamburg auf. 

5. Was sind die nächsten Musik-Trends für 2022?

Welche Trends erwarten uns noch in diesem und nächstem Jahr?
Ich glaube schon, dass die gesamte Branche es hinbekommen kann, kulturell diverser aufzutreten. Auch wenn (deutscher) Hip-Hop immer noch ein extrem erfolgreiches Genre ist, glaube ich, dass daneben auch Dance und Rock wieder vermehrt in den Mittelpunkt rücken werden. Live-Videos als Format werden immer wichtiger werden. Wir hoffen ja, dass wir mit der Pandemie bald so umgehen können, dass wir tolle Momente auf Festivals auch in Person wieder miterleben können. Ein hybrides Format aus digital und analog wird aber immer weiterleben. Wir werden versuchen, große Momente wie Festivals auch für ein Publikum darzustellen, das nicht vor Ort ist. In der Hoffnung, dass wir dann irgendwann wieder hunderttausende Menschen gemeinsam feiern sehen.

Fotos & Titelbild: TikTok

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Robin Micha
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