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girl in red aus Norwegen macht aus düsteren Gedanken lebendigen Pop

Schon seit Jahren werden queere Lovesongs mit ihr assoziiert, jetzt aber legt girl in red ihr Debütalbum vor. Darauf bleibt Norwegens Shootingstar ihren Wurzeln im Bedroom Pop treu, verpasst ihnen mit klaren Worten aber auch ein lebendiges Makeover. Warum dahinter die Auseinandersetzung mit Angst und düsteren Gefühlen steckt, erzählt girl in red im Interview bei Burger, Pommes und Milchshake.

Seit ihrer Jugend hat Marie Ulven, besser bekannt als girl in red, Angst vor dem Sterben. Und das nicht nur in einem normalen Ausmaß. „Ich hatte zu viel Angst, Essen zu schlucken, weil ich dachte, ich würde ersticken“, sagt sie jetzt und zählt ihre Ängste im Videocall auf. „Ich hatte wirklich Angst vor Tsunamis und Hubschraubern und dem Dritten Weltkrieg. Ich hatte Angst, meine eigenen Haare zu essen, mir die Haare auszureißen. Ich habe all diese Dinge zu meiner Mutter gesagt. Sie sagte: ,Na ja, reißt du dir denn die Haare aus?‘ Niemand hat gesehen, [dass] das hier ein wirklich ängstliches Kind ist.“

Rückkehr alter Ängste: „2020 war einfach ein sehr, sehr hartes Jahr”

Ulven lernte im Laufe der Jahre, mit ihren Ängsten umzugehen, aber in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 begannen die Dinge wieder in einem beängstigenden Ausmaß zu brodeln. Als die Pandemie in vollem Gange war und sie in in ihrem Heimatland Norwegen festsaß, schossen ihre gesundheitlichen Ängste in die Höhe. Sie begann, häufige Panikattacken zu haben. Tagelang konnte Marie nicht allein in ihrem eigenen Bett schlafen und musste bei ihrer Schwester übernachten. „Es war einfach ein sehr, sehr hartes Jahr, in dem ich mit meinem eigenen Verstand kämpfte“, sagt sie offen.

Ulven erinnert sich an all das, während sie beherzt ein geliefertes Essen, bestehend aus Burger mit Pommes und einem „10 outta 10″-Milchshake verspeist  – eine himmlische Mahlzeit nach einem Tag voller Wandern und Presseinterviews. Es ist nicht so, dass das Thema nicht ernst genug wäre, um eine seriösere Atmosphäre zu rechtfertigen. Die 22-jährige norwegische Singer-Songwriterin scheint einfach darauf eingestellt zu sein, offen und ohne Wirbel oder Unsicherheit über ihre Wahrheiten zu sprechen. Selbst wenn das mit ausgeschalteter Kamera gegenüber einer fremden Person ist, die sich Kilometer entfernt auf der anderen Seite der Welt befindet.

Die „queeren Hymnen” aus Oslo

In den letzten drei Jahren hat sich die in Oslo lebende Songwriterin zu einem der einflussreichsten jungen Stars der Welt entwickelt. Ihre filmähnlichen Bedroom-Pop-Songs über junge queere Liebe und Ängste haben bei mehreren Millionen jungen Menschen auf der ganzen Welt Resonanz gefunden. Ulven trägt sie mit einer nackten Relatability vor, die sich bisher ungehört anfühlt. Frühe Songs wie „girls” von 2018 und „we fell in love in october“ wurden scheinbar universell als Art Queer-Hymnen akzeptiert. („Ich höre das fast jeden Tag und irgendwie denken meine Eltern immer noch, dass ich hetero bin“, schrieb jemand in einem Kommentar auf YouTube).

Inspiriert von Rue aus „Euphoria”

„if i could make it go quiet”, das lang erwartete Debütalbum von girl in red, ist Ende April endlich erschienen, und zwar unabhängig über ihr eigenes Label World in Red und AWAL. Es enthält einige der düstersten und wütendsten Musikstücke, die sie je veröffentlicht hat. Geschrieben und aufgenommen hat Ulven sie größtenteils während des schwierigen letzten Jahres. Im Song „Rue“ singt sie über pulsierende Synths: „I remember you stayed up all night to make sure I was alright“. Eine Anspielung auf die Nächte, die sie mit ihrer Schwester verbrachte. Der Track ist lose inspiriert von Zendayas Figur in „Euphoriaund gehört zu den düsteren Stücken des Albums. Der Ethos von girl in red, nachdem ihre Songs relatable sein sollen, bleibt aber konstant. „Ich weiß, dass das jetzt auch jemand anderem passiert“, sagt sie. „Wenn ich Rue bin, dann wird es so viele Rues geben, you know?“

Anders als man vermuten könnte, hatte Ulven keine sehr musikalische Erziehung. „Wir hatten kein einziges Instrument“, sagt sie, wenn sie an ihre Kindheit in der norwegischen Kleinstadt Horton zurückdenkt. Ihr frühester musikalischer Geschmack bestand weitgehend aus dem, was im Radio lief: US-amerikanische Exporte wie Taylor Swift, Beyoncé und Hannah Montana. „Ich war wirklich nur eine passive Zuhörerin“, sagt sie. Das änderte sich, als sie 14 Jahre alt war und 2012 der Film „Vielleicht lieber morgen” in ihr Leben trat.

 

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Der Film spielt in den 80er Jahren. Für Marie eröffnete er ein ganzes Jahrzehnt der Musik, das sie bis dahin nicht kannte. Als der Abspann zu laufen begann, schrieb sie alle Songs auf, die im Soundtrack verwendet wurden. Sie suchte sie auf YouTube, völlig besessen. „Ich fand die Ästhetik der 80er Jahre wirklich cool“, sagt Marie Ulven. Im selben Jahr schenkte ihr Großvater ihr die erste Gitarre. Schon bald begann sie, Swift und Justin Bieber zu covern und schließlich ihre eigenen Songs zu schreiben. Im Jahr 2015 lud sie ihre eigenen Songs unter dem Namen girl in red auf Spotify und SoundCloud hoch.

„They’re so pretty, it hurts/ I’m not talking ‚bout boys, I’m talking ‚bout girls/ They’re so pretty with their button-up shirts“ – aus girl in reds Debütsingle „girls” von 2018

Die frühesten Aufnahmen von Ulven, die man online finden kann, sind Acoustic-Songs mit süßen und melancholischen Melodien. Erst aber als sie anfing, mitzusingen, begannen ihre Lieder online langsam an Kraft zu gewinnen. Die Songs, die sie in ihrem Zimmer schrieb, waren kleine, verschwommene Nummern mit Texten, die all die Gedanken zum Ausdruck brachten, die Menschen oft im Kopf haben. Ihre Durchbruch-Single „girls“ ist ein kompromissloses Bekenntnis zu ihrer Sexualität. „They’re so pretty, it hurts/ I’m not talking ‚bout boys, I’m talking ‚bout girls/ They’re so pretty with their button-up shirts“, leidet sie über krachendes Schlagzeug und Gitarre.

Von Angst, Wut, Liebeskummer – und Horny sein

Im Vergleich zu den Songs auf „if i could make it all go silence“ fühlt sich „girls“ jetzt unschuldig an. Die 11 Tracks des Albums, nicht mehr lo-fi, sondern glänzend produziert, wandern tief in Ulvens Verstand – einen Ort, der gleichermaßen mit Angst, Wut, Horny-sein und Liebeskummer gefüllt ist. Auf „apartment 402”, einer leise ziehenden Klavierballade, konfrontiert sie sich direkt mit ihrer Angst vor dem Aussterben: „Gibt es doch noch einen Ausweg?/ Wenn ich den Halt verliere und falle, werde ich sterben?“ Auf „hornylovesickmess“ ist sie, nun ja, genau das. Marie singt darüber, wie lange sie schon (unfreiwillig) ohne Sex lebt, dazu ein frecher Pop-Beat. In „did u come“, dem wütendsten Song der Platte, konfrontiert sie eine Ex mit den sexuellen Fähigkeiten ihrer neuen Partnerin: „How many times? Tell the truth/ Wait, nevermind.“

„Seid online ein guter Mensch, seid keine Bitch, seid nicht problematisch. Sei ein guter Mensch, damit die Leute sehen können, dass das Leben für gute Menschen auch so laufen kann.“

 

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Der neue Sound geht über den queeren Kosmos hinaus

„Ich habe mich einfach auf eine Art und Weise kennengelernt, wie ich mich vorher nicht kannte“, sagt Ulven. „Wenn man sich von 18 zu 22 entwickelt, fühlt man nicht mehr gleich zu gewissen Dingen. Ich habe das Gefühl, ein tieferes Verständnis für meine mentale Gesundheit zu haben, und automatisch wird auch das Schreiben ein bisschen mehr wie … es geht einen Schritt weiter.“ Der Zeitsprung spiegelt sich auch im Sound und in der Produktion der Platte wider. Sie schimmert in schärferen Technicolor-Farben als frühere Releases von girl in red. Insgesamt ist es ein Werk, das beweist, wie Ulvens musikalischer Geist und ihre Fähigkeiten als Songwriterin über die LGBTQIA+ Hymnen hinausgehen, die schon lange mit ihr verbunden werden.

Obwohl die Pandemie immer noch wütet, hat sich Ulvens innerer Kampf beruhigt. „Ich bin jetzt in einer viel besseren Position„, versichert sie. Sie hat im vergangenen Jahr einen Hund bekommen, Luna, der ihr sehr geholfen hat. Außerdem macht sie eine Therapie. Heute genügen Marie Ulven einfache Freuden wie Kaffee trinken oder ein gutes Stück Brot, um sie glücklich zu machen.

Macht sie sich jetzt, wo sie ihre dunkelsten Momente mit der Welt teilt, Sorgen darüber, wie sie von ihren Fans aufgenommen werden? Nicht wirklich. „Ich möchte Musik und Kunst oder was auch immer machen, ohne daran zu denken: ,Oh, was werden die Leute sagen? Oder was werden die Leute denken?'“, sagt girl in red. „Die Art und Weise, wie ich rücksichtsvoll sein will, besteht einfach darin, ein guter Mensch zu sein. Seid online ein guter Mensch, seid keine Bitch, seid nicht problematisch. Sei ein guter Mensch, damit die Leute sehen können, dass das Leben für gute Menschen auch so laufen kann. Ich habe das Gefühl, dass das eine gute Sache ist.“

Text: Steffanee Wang // Titelbild & Fotos: PR

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