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Warum es Zeit ist, mit dem Villain-Stereotyp in der Popmusik abzurechnen

Musiker*innen von Madonna über Lil Nas X bis hin zu Charli XCX machen sich seit langem das alte Klischee zunutze, laut dem  Popmusik moralische Korruption sei.

Charli XCX ist in ihrer Villain Era. Monate nach der Veröffentlichung ihres Pandemie-Albums „How I’m Feeling Now”, das einen verletzliche Real-Time-Einblick  in ihr kreatives Schaffen während der Quarantäne gab, zeigten Posts in den sozialen Medien, dass sie nun auf die „dunkle Seite” gewechselt ist. Blutige Bilder, Horrorfilm-Stills, dämonische Feen und ein Cartoon-Teufel überschwemmten Charlis Social Feeds. „Ich mag böse Popstars”, twitterte sie 2021. Eine Woche später schrieb sie: „Tipp für neue Künstler*innen: Verkauft eure Seele für Geld und Ruhm.“ Sie teilte ein Bild eines E-Mail-Threads mit ihrem Label Atlantic Records und einem anderen Absender in Blindkopie: takemysoulforever666@gmail.com. Mit „Good Ones“, der ersten Singleauskopplung ihres Albums „Crash”, untermauerte Charli ihren Imagewandel zur „Bösewichtin” weiter. In dem Musikvideo sieht man Charli auf einer Beerdigung, wo sie Bibeln zum Brennen bringt und auf ihrem eigenen Grab tanzt. Am Ende des Videos fällt sie in Ohnmacht, was auf ihren Tod und die Geburt eines neuen Albumzyklus hindeutet.

Trotz des ironischen Untertons, der Charlis performativer 180-Grad-Drehung zugrunde liegt, reagierten viele auf ihre Posts, als sei sie wirklich eine Sektenführerin, die Verkörperung einer bösartigen Macht – oder sogar beides. In ihren Kommentaren forderten Menschen Charli auf, Buße zu tun und zu Gott zu finden. Selbst die Erklärung der Intention hinter dem Album reichte nicht aus, um die Leute zum Einlenken zu bewegen: „Ein Gedanke: Stellt euch vor, die gesamte Albumkampagne wäre ein Kommentar zum Umgang mit dem Major-Label-System und der sadistischen Natur der Popmusik als Ganzes“, twitterte Charli im Januar. Später führte ein Backlash auf ihre angekündigte Teilnahme an der Afterparty des NFT-Festivals (die sie später absagte) und der Unmut der Fans über die Singles des Albums dazu, dass sie sich aus den sozialen Medien zurückzog. Es war ein eklatanter Bruch zwischen der sexy, schurkischen Persönlichkeit, die sie in den sozialen Medien verkörperte und den bedrohlichen Urteilen, die die Leute online über sie gefällt haben.

Ausbruch oder strategischer Schachtzug: Die Villain-Era kommt nicht ohne Grund

In einer Zeit, in der wir ständig davor gewarnt werden, nicht alles zu glauben, was im Netz steht, erzählte Charli online, dass sie böse geworden sei – und die Menschen glaubten ihr. Jetzt, wo sie ihren „großen Pop-Girl-Moment” erlebt, spielt sie mit einem wichtigen kulturellen Muster, das Popmusik mit moralischer Korruption gleichsetzt. Wir haben uns von Paganini und Robert Johnson, Musikern deren Mythen auf ihrer Beziehung zum Teufel beruhen, zu Madonna und Lil Nas X entwickelt, die diese alte und stereotype Beziehung für ihre Popmusik ausnutzen. Einige Künstler*innen enthüllen, dass es entweder mehr Spaß macht oder sogar ehrlicher ist, den Villain zu spielen. 

Ein Pop-Bösewicht*innen-Kapitel, ob beabsichtigt oder nicht, ist eine Art Übergangsritus. Der Wechsel des bekannten Narrativs ist in der Regel sowohl ein strategischer Schachzug, um aus einer kreativen oder karrieretechnischen Sackgasse auszubrechen, als auch eine Reaktion darauf, wie ein*e Künstler*in sich wahrgenommen fühlt. Manche Artists beschwören böse Alter Egos herauf, wie Nicki Minajs Persona „Roman”. Andere versuchen sich von ihren unschuldigen Anfängen zu befreien, wie einige Disney Channel-Stars oder – weniger chaotisch – Rihanna. „Ich bin jetzt meine eigene [Person]. Ich mache nicht, was irgendjemand von mir will. Ich bin nicht mehr die unschuldige Rihanna. Ich gehe viel mehr Risiken und Chancen ein”, sagte Rihanna über den Titel ihres 2007 erschienenen Albums „Good Girl Gone Bad”. Ihre Neuerfindung basierte auf „Bad Girl”-Verhalten, das Befreiung symbolisierte und von einem sexy Image profitierte. 

Ob gewollt oder nicht: Das Kapitel eines Pop-Villains ist ein Übergangsritus 

Paula Harper, Assistenzprofessorin für Musikwissenschaft an der University of Nebraska-Lincoln, weist darauf hin, dass Charlis Kampagne sowohl mit Pop-Stereotypen als auch mit der Schockwirkung einer Meme und Viralität besessenen Kultur zu tun hat. „Es gibt eine bewusste Berufung auf das Heilige, um Empörung zu erzeugen, die vermarktbar oder profitabel ist. Es fühlt sich an wie eine Verbindung zu einem älteren Marketingmodell wie bei Madonna. Ihre Sichtbarkeit und ihr Markenpotenzial wurden durch das Musikfernsehen und die zunehmende Verbreitung visueller Medien auf eine neue Art vermittelt. Es gibt hier eine eindeutige Parallele zu den sozialen Medien, die den neuen Raum für Markenbildung und Ausdruck darstellen”, erklärt sie. Das Ergebnis ist eine frustrierende Dissonanz, die zwischen der Kunst und unserer kapitalistisch geprägten Welt besteht. „Es ist wie ein Ouroboros: eine Schlange, die sich selbst auffrisst: Wir befinden uns an einem Punkt, wo selbst die Kritik an der Maschinerie zu einem viralen Moment wird.“ 

Dorian Electra, experimentelle*r Pop-Künstler*in, der*die auch häufig mit Charli XCX zusammenarbeitet, fügt jedoch hinzu, dass die Villain-Rolle nicht immer unbedingt tiefgründig ist. Manchmal sei es, als würde man „einen Tag lang Goth spielen”. Ungeachtet der Absicht eines*einer Künstler*in merkt Electra an, dass die Spannungen unseres politisch polarisierten Klimas die Wahrnehmung jeglicher regelbrechenden Kunst beeinflussen. „Besonders jetzt im Kapitalismus, wo jede Art von Identität und politischer Identität zur Ware gemacht werden kann, ist [die Absicht] irgendwie bedeutungslos”, sagt Dorian. „In gewisser Weise kann man sagen: ‚Fuck the System‘, indem man an genau diesem System teilnimmt und nichts dagegen unternimmt, außer den Leuten das gute Gefühl zu geben, dass sie eine*n Künstler*in unterstützen, mit dem*der sie ethisch auf einer Linie liegen. Aber die Fans machen keinen wesentlichen Unterschied in der Welt.”

Als öffentliche Person ist die Verunglimpfung als Bösewicht*in ein grausamer Teil des Fame: der Sturm an Kritik, der als Reaktion darauf kommt, dass Künstler*innen nicht den Erwartungen oder Normen der Zeit entsprechen. In den besten Fällen nehmen Artists die Rolle an, für die sie kritisiert wurden. Als die Polizei Madonna 1990 bei einer Show in Toronto mit einer Verhaftung drohte, wenn sie auf der Bühne Masturbation andeuten würde, hat sie ihre sexuelle Performance nur noch mehr betont. Die Polizei gab an, sie würde wegen „unmoralischer Live-Performance” verhaftet werden. Dies impliziert eine Verurteilung der menschlichen und insbesondere der weiblichen Lust, die Künstler*innen wie Madonna in ihre Kunst einbrachten, ein Tabu-Thema waren.

Foto: Kevin Mazur/WireImage/Getty Images via NYLON.com

Auf einmal böse: Wenn das Narrativ von Künstler*innen zu unbequem für die Gesellschaft wird

Mit Blick auf das ständige kulturelle Schwanken zwischen Authentizität und Grandeur argumentiert Electra, „dass es etwas inhärent Sexyes hat, der*die Bösewicht*in zu sein“. Das Spiel mit Gegensätzen – Gut und Schlecht oder rein und böse – ist eine Möglichkeit für Artists, die Vielschichtigkeit der menschlichen Natur zu erkunden. „Wenn man online geht, erleben so viele Menschen Negativität zu sich selbst und ihrer Karriere“, sagt Electra. „Ich denke, wir sollten uns das zu Nutze machen und sagen: ,Weißt du was, wen kümmert’s? Jede*r hasst mich, verdammt noch mal.‘ Darin liegt eine große Kraft.”

Ein Großteil der popkulturellen Kunst, die zu Schock und Empörung führt, besteht darin, dass Künstler*innen ihr Publikum mit dem Unbequemen konfrontieren. Noch nie hat die Gesellschaft dieses Wort gern gehört, geschweige denn sich daran gewöhnt. Taylor Swift kommentierte die Erwartung an Künstler*innen, sich ständig neu zu erfinden, gegen Ende ihrer „Miss-Americana”-Dokumentation: „„Verkörpere eine Geschichte, die wir interessant finden und uns unterhält. Aber es darf nicht so verrückt sein, dass wir uns damit unwohl fühlen.“

Als M.I.A. als britische Künstlerin sri-lankischer Abstammung bekannt wurde, erinnerte sie die Welt daran, dass die Grenzen des unbequemen Seins für nicht-weiße Künstler*innen anders gesetzt sind. „Welche Erfahrungen dürfen wir von diesen Orten mit anderen teilen, die für euch bequem und leicht zu verdauen sind”, sagte sie in dem Film „Matangi”, als sie dafür kritisiert wurde, dass sie im Laufe ihrer Karriere auf die Gewalt und den Völkermord in Sri Lanka aufmerksam gemacht hatte. „Sie finden, dass ich viel mehr Verantwortung habe und ein globales Aushängeschild für die Welt sein sollte. So nach dem Motto: ‚,Hallo, ich bin das hungernde Kind aus der Lehmhütte, das es geschafft hat. Ich werde immer so bleiben, nur für dich, damit du die Botschaft verstehst.’”

Wer nimmt eine Rolle an, weil sie gerade passt und wer spielt mit den Stereotypen der Gesellschaft?

Als Lil Nas X 2021 sein Debütalbum Montero promotete, nutzte er den homofeindlichen Hass konservativer Menschen und religiöser Internet-Trolls aus, indem er „Satan-Schuhe” verkaufte und in seinen Videos den Teufel spielte. Die Professorin Harper sagt dazu: „Das fühlt sich eher so an, als würde Lil Nas X den Annahmen ansprechen, die über ihn aufgrund seiner Identität bereits in der Welt bestehen, oder? Das ist es, womit ein junger, schwuler, Schwarzer Mann arbeiten muss – und deshalb hat er es diese Rolle angenommen. Im Gegensatz zu jemandem wie Taylor Swift oder Miley Cyrus, die in [die Rollen] schlüpfen können, aber dann auch die Fähigkeit haben, wieder zurück zu ihren unschuldigen Anfängen zu gehen.” Harper hält Charli XCX’ aktuelle, von „Satanic Panic” inspirierte Kampagne für einen Kommentar dazu, „wie dumm es ist, dass diese Strategie ein Weg ist, um Musik zu verkaufen.”

Bild: YouTube via NYLON.com

Taylor Swifts sechstes Album „Reputation” – das die Musikkritikerin Maura Johnston als Swifts „Kehrtwende” bezeichnete – lehnte sich an ihre öffentliche Auseinandersetzung mit Kanye West und Kim Kardashian an. Als Swift online als Schlange bezeichnet wurde, machte sie diese zu ihrem eigenen Maskottchen. Unter einer Masse von Gegenreaktionen und Leuten, die ihre Authentizität in Frage stellten, wurde sie zur Königin der Titel,  die ihr ihre Kritiker*innen gegeben hatten. Das Unangenehmste an ihrer Reputation-Villain-Plotline aber war nicht, dass sie eine berühmte Kontroverse verkomplizierte, sondern dass sie daran erinnerte, wie sich viele weiße Popstars in ihren extremsten Albumzyklen auf afro-amerikanische Stereotypen verlassen. Swift setzte auf ihrem Album Hip-Hop und Trap-Musik ein, um ihren Standpunkt zu untermauern. Am Ende des Tages – oder des Albumzyklus – war dies Teil einer Performance, die sie beenden konnte. So schnell, wie sie in ihre Rolle als Schlangenkönigin geschlüpft war, legte sie ihre Haut ab und lehnte sich in die Unschuld zurück: ihr Folgealbum hieß „Lover”.

Es kann zwar Spaß machen, den* die Bösewicht*in zu spielen, aber die Auswirkungen der Pop-Bösartigkeit können je nach Identität des*der Künstlers*in unterschiedlich sein. Wir erwarten von Popkünstler*innen, dass sie uns immer wieder überraschen, aber nicht die Aspekte an ihnen ändern, die wir lieben. Außerdem wird nicht allen Künstler*innen die gleiche kreative Freiheit gewährt, was in einer unglaublich ungleichen Welt nicht überraschen dürfte.

Nicht alle Musiker*innen wählen ihr Villain-Image selbst

Alice Glass, eine kanadische Singer-Songwriterin und ehemalige Frontfrau der beliebten Electronic-Band Crystal Castles, spricht über die verwirrenden Schurkinnen-Narrative, die sich im Internet um sie ranken. Am Telefon erzählt sie, wie ihr schlechter Ruf durch falsche Schlagzeilen und frauenfeindliche Berichterstattung entstand. „Ich wurde als Schlägerin in Moshpits bekannt, und es hieß: ,Oh, sie hat mich ohne Grund geschlagen‘. Aber es lag immer daran, dass ich in der Menge surfte und jemand versuchte, seine Hand unter meinen Rock zu schieben oder mich zu befummeln”, sagt Glass. „Ich bin dem Arm gefolgt und habe die Person gesehen und wenn sie ein selbstgefälliges Gesicht gemacht hat, habe ich sie geschlagen.“

Jahre nach der Aufdeckung des Missbrauchs, den sie von ihrem früheren Musikpartner bei Crystal Castles ertragen musste, ist Alices Solo-Punk-orientierte Popmusik ein Ausdruck ihrer Wut. „Ich möchte diese dunkle Erinnerung sein. Das macht mich zu einem Villain in der Musikindustrie“, sagt sie lachend. „„Aber ich möchte jemand sein, an den man denkt, bevor man einen Vertrag unterschreibt oder mit einem*einer Produzenten*in arbeitet. Oder bevor man einem Typen zuhört, der etwas sagt und sich dann aber anders verhält.”

Wenn es um Pop-Villains geht, sind meistens nicht die Künstler*innen selbst die Bösen. Stattdessen haben sie mit Ohrwürmern und verführerischem Marketing das absurde Konzept ausgenutzt, das Moral mit Geschmack gleichsetzt. „Viele Leute machen sich den ‚Villain‘ zu eigen, weil unsere kulturellen Werte in dieser Zeit unklar sind. Vielleicht haben die Bösewicht*innen ja doch einen guten Grund“, meint Dorian Electra. Der Backlash gegen Charli XCX spricht für die anhaltende moralische Panik, die wie ein intoleranter Zombie jedes Mal aus dem Grab aufsteigt, wenn Popkultur verkrustete puritanische Normen bedroht. Die Geschichte der Pop-Villains ist eine deutliche Erinnerung daran, dass unser moralischer Kompass schon immer völlig schief war – und dass ihr Aufstieg ein Signal für eine Abrechnung ist.

Text: Margaret Farrell. Es wurden kleine Änderungen vorgenommen. // Titelbild via NYLON.com

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