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Warum machen uns traurige Songs glücklich? Wir untersuchen das Phänomen

Überraschungseffekt: Manchmal machen uns traurige Songs viel glücklicher als solche, die Hype und Happiness versprechen. Aber warum ist das so? Unsere Autorin hat das Phänomen mithilfe von Stars aus Musik und Wissenschaft untersucht.

Als ich diese Worte schreibe, bin ich seit 64 Tagen in Selbstisolation. Am sechsten Tag der Quarantäne habe ich eine Playlist mit meinen liebsten traurigen Songs erstellt. Sie enthält 96 Titel – neun von Bright Eyes, sieben von Elliott Smith und ja, sogar einen von Taylor Swift („All Too Well“). Ihre Gesamtlaufzeit beträgt fast genau sieben Stunden. Achtundfünfzig Tage später höre ich sie immer noch, fast jeden Tag.

Wie so ziemlich alle Menschen habe ich in den letzten Monaten spontane Anfälle extremer Emotionen erlebt: Einsamkeit und Trauer, Wut und Verwirrung, noch mehr Einsamkeit. Mein Ausweg waren Serien, die es mir erlauben, mein Gehirn auszuschalten, One Tree Hill zum Beispiel, oder irgendwelche nostalgischen Filme, bei denen ich schon jedes Wort mitsprechen kann. Sie sind eine Auszeit von all den Gefühlen, die überhand nehmen, wenn es nicht viel anderes gibt, auf das man sich konzentrieren kann. Man sollte meinen, dass dies auch die perfekte Zeit für Popmusik wäre – sprudelnd und lustig, mit ihren lauten Synthesizern und stampfenden Basslinien. Was wäre mehr Realitätsflucht als das?

Traurige Songs machen mich glücklich – aber warum?

Und doch kehre ich immer wieder zu der einen Playlist zurück, die ich in der ersten Quarantänewoche erstellt habe. Ich kehre zurück zu all der Melancholie, Sehnsucht und Verwirrung, die mit jedem Song, der gespielt wird, durch die Lautsprecher kommt. Die Lieder, die aus meinen Lautsprechern dröhnen, sind ebenso melancholisch, sehnsuchtsvoll und verwirrt, wie ich mich fühle – also liefern sie nicht gerade stimmungsverändernde Emotionen. Warum fühle ich mich durch sie dann so viel besser?

Um Antworten zu erhalten, habe ich einige Expert*innen in Sachen traurige Songs nach ihren Theorien gefragt – darunter Musiker*innen und wissenschaftliche Expert*innen. „Oh man, es ist schwierig, hier ein gutes Argument zu finden“, schreibt Chris Carrabba, der als Frontmann der 2000er-Band Dashboard Confessional, der seit zwei Jahrzehnten über Liebeskummer singt. „Ich glaube, traurige Songs geben uns ein gutes Gefühl, weil sie uns helfen, den Schmerz, die Sehnsucht oder das Bedauern, an dem wir uns festhalten, loszulassen. Sie versorgen uns mit einer gesunden Art und Weise, diese Gefühle loszulassen.”

Popstars erzählen von traurigen Liedern, die sie happy machen

Phoebe Bridgers, deren zweites Album „Punisher” gerade erschienen ist, wunderte sich darüber, dass „Sounds, die jemand geschaffen hat, ohne dich im Hinterkopf zu haben, Monate oder Jahre später in dich eindringen und etwas aus deinem eigenen Leben beschreiben können – etwas, von dem du nicht wusstest, dass man es in Worte fassen kann“, schreibt sie per Mail. „Durch traurige Songs fühle ich mich besser, weil ich lieber so etwas anstatt gar nichts empfinde. Musik, die deine Stimmung verändert, ist wie Alchemie für deine Gefühle.“

 

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Für Sharon Van Etten greift die Musik dort ein, wo die Sprache zu kurz kommt. „Manchmal kann man Gefühle nicht in Worte fassen“, schreibt sie. „Manchmal möchte man fühlen und es über sich ergehen lassen. Und eine Verbindung spüren. Die Musik nimmt dich mit und bringt dich zurück, vom Anfang bis zum Ende.“

Tomberlin findet unterdessen so viel Trost in traurigen Songs, dass sie davon nicht einmal wirklich traurig wird. „Klar treffen manche im richtigen Moment hart zu, wie wenn ein trauriges Lied deine eigene Traurigkeit widerspiegelt, dich mitreißt“, sagt sie. „Einige traurige Songs geben dir einfach nur Kraft, mit deiner eigenen Traurigkeit umzugehen, oder zeigen dir kreative Wege, mit schwierigen Zeiten umzugehen“, sagt sie. Und Half Waif sagt: „Traurige Musik genau dann zu hören, wenn man sich traurig fühlt ist wie ein Spiegel – und wir alle lieben es, gesehen zu werden. Es ist, als würde man in eine Schlucht hineinschreien und seine eigene Stimme widerhallen hören – der Klang hat ohne Zweifel etwas Einsames an sich, aber es ist auch ein Trost und eine Erleichterung, wenn einem das Vertraute zurückgegeben wird. Vielleicht ist es auch eine Möglichkeit, sich eine Emotion zu eigen zu machen, die uns oft das Gefühl gibt, die Kontrolle zu verlieren.”

Studien zeigen: Traurige Songs sorgen für Nostalgie

Untersuchungen belegen den Reiz des musikalischen Schwelgens: Eine 2008 in Japan durchgeführte Studie ergab, dass die Teilnehmer Lieder, die in einer Moll-Tonart gespielt wurden (und als „traurig” empfunden wurden), weitgehend den Liedern vorzogen, die in einer Dur-Tonart gespielt wurden. Was der Grund dafür sein könnte? Mehrere andere Studien fanden heraus, dass das Hören trauriger Musik den Spiegel des Hormons Prolaktin erhöhen kann, was wiederum „einen tröstenden psychologischen Effekt” erzeugt. Die häufigste Schlussfolgerung läuft jedoch auf die Emotion der Traurigkeit selbst hinaus, insbesondere im Bezug auf Nostalgie. Nostalgie wurde von den Teilnehmern der 2014 durchgeführten Umfrage „The Paradox of Music-Evoked Sadness” als das am häufigsten mit trauriger Musik in Verbindung gebrachte Gefühl genannt. „Das Hören trauriger Musik kann zu positiven emotionalen Effekten wie der Regulierung negativer Emotionen und Stimmungen sowie zu Trost führen“, schreiben die Co-Autoren Liila Taruffi und Stefan Koelsch, die 772 Menschen aus aller Welt befragten.

„Es gibt Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass traurige Musik das Gefühl widerspiegelt, traurig zu sein, weil sie langsam ist und in ihr ,weniger los‘ ist. Dein Geist wandert während der Musik und du bist eher nachdenklich. Für manche Leute ist das eine wirklich gute Strategie, um Dinge verarbeiten zu können. Es schadet nicht, dass wir die Gefühlsmaschine aus der Tasche ziehen können, wann immer wir sie brauchen.” – Dr. Simon Procter

„Viele Leute sagen, dass sie traurige Musik mögen, was interessant ist, weil man sich nicht gerne traurig fühlt“, sagt Dr. Simon Procter, ein Soziologe und Musiktherapeut und Leiter der Musikdienste von Nordoff Robbins UK. „Es gibt eine sehr berühmte Musiksoziologin namens Tia DeNora, die über Musik als Technologie des Selbst spricht, basierend auf der Idee, dass wir alle die Fähigkeit haben, Musik zu nutzen, um die Art und Weise, wie wir sind, und auch die Welt um uns herum zu beeinflussen. Denkt man zum Beispiel daran, wie man die Top 40 aufdreht, um sich vor einer Partynacht aufzuheizen, oder die Stimmung bei einem romantischen Date mit einem Liebeslied bestimmen will. „Es gibt Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass traurige Musik das Gefühl widerspiegelt, traurig zu sein, weil sie langsam ist und in ihr ,weniger los‘ ist. Dein Geist wandert während der Musik und du bist eher nachdenklich. Für manche Leute ist das eine wirklich gute Strategie, um Dinge verarbeiten zu können. Es schadet nicht, dass wir die Gefühlsmaschine aus der Tasche ziehen können, wann immer wir sie brauchen”, sagt Procter. „Musik hat die Fähigkeit, ein Begleiter zu sein, und deshalb ist sie in ihrer Traurigkeit bei uns. Sie begleitet dich, damit du nicht allein bist.“

Ich kann mich nicht an das erste traurige Lied erinnern, das ich je gehört habe, aber ich erinnere mich an das erste, bei dem ich mich weniger allein fühlte. Es war das Ende meines zweiten Studienjahres in der High School, eine Zeit, in der ich begann, die Bands zu entdecken, die ich heute noch liebe. Es war auch der Beginn meiner Depression, obwohl es noch zwei Jahre dauern sollte, bis sie offiziell diagnostiziert wurde. Plötzlich war alles ein Kampf: „social” sein, Freundschaften pflegen, zur Schule gehen, aus dem Bett aufstehen. Also zog ich mich zurück – und hörte eine Menge traurige Musik und eine ganze Menge Bright Eyes, damals (und auch heute noch) meine Lieblingsband.

Teen-Zeilen, die auch heute noch helfen

Wer weiß, wie oft ich mir schon mein Lieblingsalbum von ihnen, „Lifted or The Story Is in the Soil, Keep Your Ear to the Ground”, angehört hatte, aber es war genau zu dieser Zeit, dass ich plötzlich Gnade im vorletzten Track des Albums („Laura Laurent”), fand. Darauf singt Conor Oberst Zeilen wie: „Laura, lebst du immer noch dort/auf deinem Gut der Sorgen?/Gelegentlich hattest du es verlassen/Aber jetzt versuchst du es nicht einmal”. Ich habe auch eine Erinnerung an eine Live-Aufnahme des Liedes, auf der er Connor es mit den Worten einleitet: „Dies ist ein Song über ein Mädchen, das ich einmal kannte, und sie war so traurig, dass sie manchmal wirklich nicht aufstehen konnte”, aber diese Aufnahme scheint in den Tiefen des Internets oder meines iPod mini verloren gegangen zu sein.

Wenn man sich die Lyrics jetzt anhört, sind das vielleicht nicht die subtilsten Texte, aber damals, als ich in einer Art ewigem Nebel lebte, waren sie ein Beweis dafür, dass diese Gefühle existierten und dass es vielleicht sogar in Ordnung wäre, sie zu haben. Fast 15 Jahre später brauche ich diesen Song nicht mehr so, wie ich ihn damals brauchte, aber ich fühle immer noch jedes Mal, wenn ich ihn höre, dieselbe Erleichterung. Also war es das erste Lied, das ich in meine Playlist packte.

Hier erzählen fünf Sängerinnen und Sänger ihre eigenen Stories zu traurigen Songs:

Phoebe Bridgers: „Look At Me Now” von Caroline Polachek

„Es ist verrückt, dass Sounds, die jemand ohne dich im Hinterkopf gemacht hat, Monate oder Jahre später in dich eindringen und etwas aus deinem eigenen Leben beschreiben können, von dem du nicht wusstest, dass es sich in Worte fassen lässt. Mein aktuelles Lieblingsbeispiel dafür ist dieses Lied.”

Sharon Van Etten: „I Found a Reason” von Velvet Underground

„Jedes Lied, das ich liebe, ist irgendwo in meiner Seele eingepflanzt, und ich versuche, mich jedes Mal wieder mit dem zu verbinden, was es für mich bedeutet.“

Chris Carrabba: „From the Edge of the Deep Green Sea“ von The Cure

„Mein trauriger Lieblingssong, den ich am liebsten höre, um mich besser zu fühlen, ist definitiv „The Edge of the Deep Green Sea” von The Cure. Die Lyrics scheinen fast im Widerspruch zu sich selbst zu stehen. Sie befinden sich alle gleichzeitig im Moment tiefster Verzweiflung und völliger Genesung. Sie scheinen kraftvoll zwischen den beiden zu schwanken, ohne Zuhörer*innen mit dem endgültigen Seinszustand des Erzählers allein zu lassen. Dabei bestimmt die eigene emotionale Lage des Zuhörers den Text genauso oder mehr als Robert Smith selbst. Das ist es, was Robert Smith zu dem bleibenden Genie macht, das er ist: ,I wish I could just stop, I know, I know the moment will break my heart. Too many tears, too many times, too many years I’ve cried over you.'“

Tomberlin: „Unkillable” von Katie Dey

„Dieses Lied ist magisch. Es ist eine Art mein wütendes, trauriges Lied. Ich empfehle Ihnen, sich dieses Lied in Bewegung anzuhören, wie auch immer das für Sie aussieht. Für mich ist es eine Abwechslung von Fahrrad fahren, ins Nirgendwo fahren, gehen und laufen. Versuchen Sie, dieses Lied zu hören und nicht Ihre eigene Kraft zu spüren, auch wenn sie in dieser merkwürdigen Zeit ein wenig erschöpft ist“.

Half Waif: „The Park” von Feist

„Die Art und Weise, wie der Refrain dropt, ist reine Katharsis.”

Text: Lauren McCarthy // Titelbild: Stefanie Keenan/Getty Images & Anti- & Ryan Pfluger via NYLON.com

Nylon
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