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Musikerin Raye im Interview über Identität, ihr neues Album und warum sie ihrem jüngeren Ich keine Ratschläge geben würde

Vom Plattenlabel, das ihr Album nicht veröffentlichen wollte, bis hin zur Spitze der Charts mit ihrem Song „Escapism.”. Die Musikerin Raye im NYLON Germany Interview.

Bereits mit 10 Jahren fasste die britische Singer-Songwriterin Raye den Entschluss, eine Karriere als professionelle Musikerin zu verfolgen, und im Alter von 17 unterzeichnete sie ihren ersten Plattenvertrag mit einer der größten Plattenfirmen der Welt. Trotz zahlreicher Top 20 Hits sowie Songwriting-Deals für Künstler*innen wie Beyoncé, John Legend, Little Mix mussten ihre Fans sieben Jahre lang auf Rayes erstes Album warten. Der Grund: Ihr damaliges Label ließ sie ihre Platte nicht veröffentlichen. Seit Juli 2021 ist Raye nun eine unabhängige Künstlerin und released heute nach langem Warten ihr Debütalbum „My 21st Century Blues”Bereits mit ihrer im November veröffentlichten Single „Escapism.“ featuring 070 Shake landete sie ihren ersten #1 Hit in Großbritannien, nachdem der Song zuvor auf TikTok viral ging. Das bestätigt nicht nur, dass Raye mit ihrem Sound und ihren Lyrics den aktuellen Zeitgeist trifft, sondern auch, dass es der perfekte Moment ist, der Welt mehr von der freien, offenen und echten Raye zu zeigen. Wir haben die Musikerin zum Interview getroffen und mit ihr über Chart-Ambitionen, Authentizität und den ehrlichen Ausdruck von weiblichen Emotionen gesprochen.

Foto: Sebastian Kapfhammer

NYLON Germany: Wie fühlt es sich an, seine erste eigene Nummer 1 Single zu haben?
Raye: Unerwartet, überwältigend und so schön. Das Verrückteste an der ganzen Sache ist: Vor der Veröffentlichung des Songs, als meine Reise als unabhängige Künstler begann, habe ich mich darauf vorbereitet, keine Chart-Bestätigung zu erwarten. Für mich sollte es nur um die Musik gehen, die ich liebe. Dass das alles passiert, fühlt sich manchmal wie ein Traum an. Nur ein Wimpernschlag und ich wache auf. Es ist so schnell passiert. Ich bin also noch dabei, es zu verarbeiten. Aber ja, es fühlt sich toll an.

Wie ist es dir gelungen, in einer Branche die Authentizität leider nicht immer belohnt, deinen eigenen Weg zu finden?
Als Künstlerin die Kontrolle zu haben. Ich war in einer Situation, in der ich das nicht tun konnte. Eine unabhängige Künstlerin zu werden, war ziemlich schwierig, aber das Beste, was ich für mich hätte tun können. Sich einfach frei zu fühlen und entscheiden zu können, was das Beste für einen ist, ist mir sehr wichtig. Ich glaube auch, dass wir in einer Zeit leben, in der Labels weniger Macht haben, weil die Menschen selbst entscheiden, was sie mögen und womit sie sich identifizieren. Als Kreative ist es wichtig, dass wir uns auf die Dinge konzentrieren, die wir kontrollieren können. Ich habe keinen Einfluss darauf, ob ein Song viral geht oder nicht. Worauf ich jedoch Einfluss habe, ist die Qualität der Kunst. Dazu gehört ganz besonders der eigene Beitrag. Es ist einfach so schön, dass ich die Möglichkeit hatte, das zu tun. Die Strukturen der Industrie üben manchmal so viel Druck auf uns aus und geben uns das Gefühl, nicht gut genug zu sein.

Wir haben den Eindruck, dass du uns mit deinem kommenden Album auf eine Reise durch „Raye” mitnehmen wirst. Verschiedene Phasen, die auch mit Höhen und Tiefen einhergehen. Der Titel deines Debütalbums lautet „My 21st Century Blues”. Was macht dieses Album im Besonderen zu deinem persönlichen Blues?
Das Album behandelt eine ganze Reihe von Themen. Zum Beispiel Drogenmissbrauch, Environmental Anxiety, Körperdysmorphie und sexuelle Gewalt. Es ist mir sehr wichtig, diese Themen und Erfahrungen unverfälscht, offen und ehrlich darzustellen.  Musik hat die Kraft, Dinge auf unterschiedliche Art und Weise anzugehen. Ich höre mir viele meiner Songs immer wieder an, um Emotionen zu verarbeiten. Da ich jetzt  eine unabhängige Künstlerin bin, sage ich einfach das, was ich schon immer sagen wollte. Ich musste so lange dieses Dance-Pop-Smiley-Girl sein, das glücklich aussieht und über Dance-Beats singt. Ich wollte einfach nur Musik machen, die meine Wahrheit widerspiegelt.

Credit: The Orchard International Artist Services

„Immer, wenn ich das Gefühl habe, dass ich mich verliere oder ein bisschen orientierungslos bin, gehe ich nach Hause und kehre auf den Boden der Tatsachen zurück.”

Der ungefilterte und ehrliche Ausdruck der weiblichen Emotionen scheint in der Gesellschaft ein Tabuthema zu sein. In deiner Musik zeigst du zahlreiche Facetten von dir, die dem entgegenwirken. Was motiviert dich dazu, diese Realität in deiner Musik auszudrücken?
Dass ich dieses falsche, kreative Wesen so lange aufrechterhalten musste, während ich privat so viel durchmachte, brachte mich auf den Gedanken der menschlichen Erfahrungen. Wir alle haben gute und schlechte Tage und Musik ist für mich wie Medizin. Ich höre Musik, wenn ich mich besser, lebendig oder einfach irgendetwas fühlen will. Vor allem Frauen haben oft keinen Safe Space, um über diese Themen zu sprechen. Musik ist das für mich. Es ist ein Raum, in dem ich diese Dinge wortwörtlich und klar aussprechen kann.

Du bist in Südlondon aufgewachsen, deine Mutter ist ghanaisch-schweizerischer Herkunft und dein Vater kommt aus England. Wie hat dein Hintergrund deinen Zugang zur Musik geprägt?
In vielerlei Hinsicht. Meine Eltern haben so hart gearbeitet, und ihnen dabei zuzusehen, wie sie diese Arbeitsmoral verinnerlicht haben, ist etwas ganz Besonderes. Meine Mutter lebte in Ghana, bis sie etwa 23 Jahre alt war, zog dann nach Großbritannien und arbeitete circa 30 Jahre für den National Health Service. Sie ist eine so großzügige Frau, die mit ganzem Herzen arbeitet, und das Gleiche gilt für meinen Vater, der lange im Versicherungswesen tätig war. Sie haben nicht unbedingt in Bereichen gearbeitet, die ihre Träume waren, aber sie haben hart gearbeitet. Beide kamen aus sehr einfachen Verhältnissen und haben ihren Kindern ein unglaubliches Leben ermöglicht.

Der Süden Londons ist einfach ein so schöner Ort zum Leben und Aufwachsen und ich finde hier einen Großteil meiner Identität. Hier gibt es jede Art von Kultur und Mensch. Ich habe das Gefühl, dass es kaum Gegenden und Orte gibt, an denen die Leute denken, sie stünden über den anderen. Es ist sehr bodenständig. Immer, wenn ich das Gefühl habe, dass ich mich verliere oder ein bisschen orientierungslos bin, gehe ich nach Hause und kehre auf den Boden der Tatsachen zurück. Es war manchmal schwierig, weil mir oft gesagt wurde, ich wisse nicht, wer ich sei. „Du brauchst eine Identität” oder „Du bist verwirrend. An einem Tag bist du dies, am nächsten Tag bist du das“. Dieses Narrativ habe ich immer wieder gehört. Meistens war das ziemlich verletzend. Dieses Album war für mich eine Rebellion dagegen. Es gibt so viele verschiedene Sonette, Stile und Gefühle, weil ich nicht nur eine Sache bin. Und das ist in Ordnung. Das ist keine schlechte Sache.

Credit: The Orchard International Artist Services

Wir haben einen Kommentar zu deinem TikTok-Video gesehen, in dem es heißt: „Sie hat den Song zum perfekten Zeitpunkt veröffentlicht” – warum denkst du, dass es auch für die Leute der perfekte Zeitpunkt ist, „My 21st Century Blues” zu hören?
Ich denke, dass „Escapism.” zu dieser Zeit herauskam, bedeutet einfach, dass mehr Leute dieses Album und die Songs darin wahrnehmen könnten. Vielleicht hören sie es sich an und finden es nicht gut, aber wenn auch nur ein einziger Song dabei ist, mit dem sich die Leute identifizieren können, sich gestärkt oder gehört fühlen oder etwas ausgesprochen hören, das sie verarbeitet haben. Es ist für mich einfach meine Medizin und ich hoffe, dass es auch nur für eine Person da draußen sein kann.

Was wünscht du dir, dass deine Fans mitnehmen, wenn sie dein Album hören?
In diesem Album bin ich so verletzlich wie noch nie. Die Hörer*innen bekommen ein Gefühl dafür, wer ich bin und was ich durchgemacht habe oder gerade durchmache. Schon bevor „Escapism.” viral ging, war es mein Ziel, eine Fangemeinde von Leuten aufzubauen, denen es egal ist, welches Genre ich veröffentliche. Die meine Storys genießen und etwas Positives in jedem dieser Songs finden. Ich jage nicht den Charts hinterher, das ist nicht mein Ziel. Ich möchte mir eine Fanbase aufbauen, die an mich glaubt und meine Musik liebt. Selbst auf dieser Tour möchte ich einfach jede Person umarmen. Es wird sehr persönlich. Wenn du dabei bist, dann willkommen in der Familie! 

Foto: Callum Walker Hutchinson

2018 hast du zum ersten Mal mit NYLON Germany gesprochen. Was würdest du der Raye von vor fünf Jahren raten?
Wahrscheinlich würde ich ihr gar nichts sagen. Wenn überhaupt, dann würde ich ihr einfach sagen, dass sie weitermachen und ihre Familie in der Nähe behalten soll. Wichtig ist auch, auf seine Überzeugungen zu vertrauen, sich selbst zu unterstützen und freundlich zu anderen zu sein. Ich musste erleben, was ich erlebt habe, um die Person zu sein, die ich heute bin. Keine Reise ist einfach. Es ist einfach reine Life Experience.

Für welchen Song des Albums würdest du dir persönlich mindestens so viel Aufmerksamkeit wünschen wie für „Escapism.”?
Ich habe das Gefühl, dass ein Song wie „Five Star Hotels” diese Art von R&B-Song ist, der Ähnlichkeit mit der Identität der Künstlerin hat, die ich sein wollte, bevor ich unter Vertrag genommen wurde. Vielleicht auch ein Song wie „Body Dysmorphia”, weil er sehr tiefgründig ist. „Ice Cream Man” hat eine wirklich wichtige Botschaft, aber es ist definitiv schwer zu singen. Wenn das also wirklich gut laufen würde, müsste ich es viel öfter singen. (lacht) Um ehrlich zu sein, liebe ich das Album einfach als Ganzes. Ich habe noch nicht darüber nachgedacht, was passieren wird.

„My 21st Century Blues” von Raye

Headerbild: Callum Walker Hutchinson

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Laurel Chokoago
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