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Wieso ich mich als gläubige Christin aus Protest nackt auf Instagram zeige

Zwei Dinge sind für unsere Autorin unantastbar: die emanzipierte Stellung der Frau und das Ausleben ihres Glaubens. Für viele ein Widerspruch. Ein Plädoyer für mehr Akzeptanz – angezogen, ausgezogen, auf sozialen Medien und in der Kirche.

Was fällt dir ein, wenn du an die katholische Kirche denkst? Denkst du an eine veraltete Institution, die patriarchalischer nicht sein könnte? Die Priester kennt, aber keine Priesterinnen? Denkst du an all die Skandale sexueller Übergriffe vergangener Jahre? An alte Männer, die dem Konzept von Feminismus und weiblicher Selbstbestimmung mit Unmut begegnen? Die Abtreibung als Sünde behandeln? An eine Bibel, die die Frau entweder als Hure, als Jungfrau oder als Gehorsame porträtiert?

Vermutlich tust du das. Und vermutlich käme dir deshalb auch niemals ein 22-jähriger Klischee-Millennial in den Sinn, der einen starken Glauben lebt, der aus Protest gegen die noch immer nicht erlangte Gleichberechtigung aller Geschlechter regelmäßig aber auch seine nackte Brust bei Instagram postet und seine Nippel auch nur deshalb missmutig zensiert, weil er sonst gelöscht würde.

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Genau das bin ich. Eine Feministin, eine Liberale, eine Kämpferin für das Gehört- und Gesehenwerden von Frauen, Kämpferin für die Enttabuisierung ihrer Körper und für das Recht, als solche ihr Leben abseits gesellschaftlicher Normen und Erwartungen frei gestalten zu dürfen. Wer mir bei Instagram folgt (@anni___we), bekommt mindestens dreimal die Woche ein Nude präsentiert, zweimal die Woche einen Rant darüber, was in unserer Gesellschaft alles falsch läuft, und einmal die Woche die Feststellung, dass ich mich als Frau oft unverstanden fühle. Als ich kürzlich an einem Sonntag in meinem wöchentlichen 17:30-Uhr-Gottesdienst saß und während der Kollekte fix mein Handy zückte, um eine Collage von mir einmal mit und einmal ohne Oberteil zu posten, die beidseitig die Unterschrift „deserves respect“ enthielt, wurde mir einmal mehr klar, dass meine Person für viele ein Paradoxon darstellen muss. Feministin und sexy Babe online, gläubige Christin offline. Geht das?

Wenn ich mit Menschen über meinen Glauben spreche, teilen sich die Reaktionen, hauptsächlich in Neugierde, Irritation oder gar Unverständnis. Oft werden mir Integrität und Glaubwürdigkeit in Gesellschaftsdiskussionen auch gänzlich abgesprochen, sobald das Thema aufkommt. Steigen Leute in mein Auto, wird zuerst die Jesus-Ikone belächelt, die an meinem Armaturenbrett hängt. Im Buch Genesis wird Eva aus der Rippe Adams geschaffen. Damit dem Mann nicht langweilig ist, stellt man ihm also eine Spielgefährtin an die Seite, oder wie? Schon die Schöpfungsgeschichte erweckt also den Anschein, Frauen seien nicht vollwertig, weshalb sie zu Recht scharf kritisiert wird.

Man muss aber auch hinter das Vordergründige blicken. Mittlerweile gibt es zahlreiche Theologinnen, die die Bibel auf ihre feministische Perspektive und Exegese hin untersuchen. Sie setzt sich aus vielen Schriften des Neuen und des Alten Testaments zusammen, die über Tausende Jahre hinweg gesammelt wurden. Und es waren schließlich Männer aus den patriarchalischen Gesellschaften, die diese Schriften ausgewählt und interpretierend redigiert haben, die wir heute als Bibel kennen. „Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn. Denn der Mann ist das Haupt der Frau“ – das schreibt Paulus im Neuen Testament in seinem Brief an die Epheser. Aber: Vorher hatte er eigentlich anders über Frauen geschrieben, er hatte sie als durchaus ebenbürtig mit dem Mann dargestellt. Die „neuen Christen“ waren darüber -jedoch entrüstet und schließlich waren sie es, die in ihren eigenen patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen Frauen eine untergeordnete Rolle zu wiesen. Auf diesen gesellschaftlichen Druck hin ruderte Paulus also zurück, um neue Anhänger nicht abzuschrecken. Auch Jesus hatte Gleichberechtigung im Grunde bereits vorgelebt: Maria Magdalena war seine engste Vertraute. Und es waren auch Frauen, denen er nach seinem Tod zuerst erschienen ist. Nur einige Beispiele von vielen, die nach einer Diskussion verlangen. Stellt Gott den Mann also wirklich über die Frau?

Darüber seinen eigenen Glauben neu zu interpretieren

Fotos: Akira Hojo via Unsplash; Dominik Leiner

So oder so, die Bibel darf nicht eins zu eins gelesen und interpretiert werden. Und generell bin ich keine Bilderbuch Christin. Ich gehe nicht zur Bibelschule, lebe nicht nach all ihren Regeln und vertrete bei Weitem auch nicht alle. Dennoch lebe ich neben der engen Beziehung zu Familie, Freunden, meinem Partner und mir selbst auch in einer engen Beziehung zu Gott, in der biblische oder kirchliche Vorschriften keine tragende Rolle spielen. Mein Glaube zu Gott ist nicht hinterfragbar. Er geht über alles Greifbare, alles Institutionelle weit hinaus. Glaube ist nichts, das mit Konditionen kommt, das macht ihn so schön. Glaube ist in seinem Kern nichts, was ausgrenzt.

Als Kind einer katholischen Religionslehrerin gehörte das abendliche Gebet mit meinen Eltern vor dem Schlafengehen zur ganz normalen Tagesordnung. Auf unserem Esstisch stand dieser Holzwürfel mit Danksagungen für Mahlzeiten, den jedes halbwegs religiös erzogene Kind kennt. Mit sechs Jahren hinterfragt man nicht, was einem vorgelebt wird. Später tat ich es doch, und weil ich in meiner Jugend weitestgehend unglücklich, fast depressiv war, kam ich nicht umhin anzunehmen, dass ein liebender und gütiger Gott niemals zulassen würde, dass ich mich fühlte, wie ich mich fühlte. Ich wandte mich ab, wollte aus der Kirche austreten. Irgendwann kam ich an einen Tiefpunkt und ich tat das, was alle tun, wenn die Umstände einen aufzufressen drohen: Ich suchte nach spirituellem Halt. Ich bat um Besserung. Ich betete, gerettet zu werden. Und ich fing zum ersten Mal an, wahrhaftig daran zu glauben, dass ich all das, wenn nicht in mir und auch nicht in einer anderen Person, vielleicht doch nur in Gott finden würde – einer höheren, universellen, gütigen und liebenden Macht, die einen immer begleitet. Der Grundsatz einer jeden Religion in ihrem Kern.

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Ich betrat zum ersten Mal nach langer Zeit wieder ein Gotteshaus, leicht verunsichert und mir nicht ganz im Klaren darüber, was ich mir davon erhoffte. Und obwohl ich nicht wusste, was ich suchte, war das, was ich fand, größer als alles, was ich mir je hätte vorstellen können. Es war das Gefühl völliger Loslösung. Sobald die Tür der Kirche hinter mir zufiel, verstummte nicht nur der Lärm einer hektischen Großstadt, es verstummte auch der Lärm meiner Gedanken. Dieser Ort der Ruhe öffnete einen Raum in mir, den ich vorher verloren hatte. Ein Raum, in dem es Hoffnung gab, in dem die Welt heil war, in dem ich gut genug war. Ich besuchte die Kirche zunächst nicht für ihren institutionellen Zweck, sondern allein deshalb, weil sie mich für einen kurzen Moment abschirmte von allem Schwerwiegenden.

Seit einiger Zeit besuche ich eine sogenannte freie Pfingstgemeinde. Katholisch, evangelisch, für mich spielt das keine Rolle mehr. Was mich hingegen beseelt wie nichts anderes, ist zu beobachten und ein Teil dessen zu sein, was jeden Sonntag um 17:30 Uhr in unserer Gemeinde passiert: Wir alle kommen zusammen. Menschen aller Herkünfte, jeder Hautfarbe, jeden Alters. Ich sehe hier stylishe, junge Leute, die als Freundesgruppe den Gottesdienst besuchen. Ich sehe Familien, Paare, Senioren. Obdachlose werden hier namentlich mit einer Umarmung begrüßt. Ich sehe Menschen, die laut singen, die tanzen, die knien, die weinen, die lachen, die sich in den Armen liegen, die sich gegenseitige Wertschätzung aussprechen, ohne sich zu kennen. Menschen, die füreinander und miteinander beten. Die nicht dafür beten, dass sich die Welt verändert, sondern dafür, dass die Welt sie nicht verändert. Ich sehe Nächstenliebe, Inklusion und Gemeinschaft bedingungslos gelebt wie an keinem anderen Ort. Und das Wissen, von meinem Gott geliebt zu werden, ohne das jemals ändern zu können, hüllt mich in tiefen Frieden.

Natürlich ist mir nicht egal, was in der Kirche heutzutage alles falsch läuft und wie viel davon nicht dem Puls der Zeit entspricht. Ich wünsche mir positive Veränderung. Ich wünsche mir aber auch, dass wir in der Zwischenzeit die uns gegebene Möglichkeit wahrnehmen, als Individuum jeden Tag positive Veränderung zu bewirken. Indem wir unsere Nächsten lieben wie uns selbst, wie es schon das Neue Testament gebietet. Indem wir nicht ausgrenzen. Die Welt zu einem offeneren Ort machen. Indem wir nach links und nach rechts schauen. Indem wir für Feinde beten, anstatt sie zu hassen. Ich bin Gläubige und ich bin Feministin. Ich will nicht entweder oder sein. Ich will alles sein. Und ich kann alles sein. Kind Gottes und Teil der sexpositiven Frauenbewegung. Kirchgängerin und Nacktmodel. Solange das Ziel am Ende nur eines ist: gut zu sein. 

Text: Annika Weßbecher

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