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A Decade in Music: NYLON-Redakteur Robin über seine liebsten Alben der letzten 10 Jahre

Mit dem Ende der 2010er-Jahre schießen auch die Best-Of-Rankings aus dem Boden. Klar, dass sich bei Alben der letzten 10 Jahre kaum jemand einig wird. Für Redakteur Robin endet das Ranking seiner Favoriten sogar im Kampf mit sich selbst und dem eigenen Gewissen. Warum er sich absolut nicht entscheiden kann, hört ihr hier.

Eine Liste meiner liebsten Alben der letzten 10 Jahre schreiben, das macht Spaß. Dachte ich, ist aber quasi unmöglich. Weil es mir schwerfällt, nicht abzuschweifen, mich festzulegen, zu berücksichtigen, wo ich 2010 war und wo ich 2019 bin. Wie soll man zehn Jahre Musikchaos zusammenfassen? Wie soll ich mich entscheiden, ob ich mich so entwickelt habe, wie ich vermute? Mein Spotify Wrapped jedenfalls hat mich auch in diesem Jahr über die künstlerischen Züge meiner Playlists zum Teil zweifeln lassen.

Alben der letzten 10 Jahre: Was ich verpasst habe

Zu Beginn dieser Dekade bin ich 15 Jahre alt, auch musikalisch wachse ich heran. Radio und Charts sind geprägt von elektronischen Sound-Unfällen à la LMFAO und Autotune, der noch nichts mit Soundcloud-Rap oder Kunst zu tun hat. Großartige Alben wie Robyns „Body Talk” , die die Basis für nachfolgende Pop-Werke sind, ziehen an mir vorbei. Ja, auch „Dancing On My Own”. Erst als ich in den Jahren danach Robyns Musik streame, das Album als Platte kaufe, auf eines ihrer Konzerte gehe und quasi musikalisch zu Kreuze krieche, wird es mir vollends bewusst. Ähnlich geht’s mir beim Debüt von Lorde. Heute ist ihre Musik für mich wie ein Coming-of-Age-Film, der Bilder von Tennisplätzen im Morgenlicht oder verlassenen Schul-Cafeterias zeichnet. Nur, dass ich nie an Tennisplätzen rumhing und nach dem Unterricht statt in die Cafeteria nach Hause gegangen bin. Lordes „Pure Heroine” und „Melodrama” sind trotzdem meine Schwelle zwischen der Finsternis und Hoffnung des Erwachsenwerdens.

Die wahre Nummer 1 gibt’s doch

Ein Jahr vorher noch erscheint aber jenes Album, das ich als einziges wirklich ranken kann. Das für mich das beste Werk der Dekade ist. Weil es eine neue Zeit einläutet. Weil es in der überrevolutionierten Popwelt der 2010s die Aufgabe meistert, Vergangenheit und Gegenwart neu miteinander zu verschmelzen. Lana Del Rey veröffentlicht 2012 ihr Debüt „Born To Die” und ich bin erst einmal perplex. Vintage-Americana-Look, Lolita-Image und dazu Beats, die an Hip Hop anlehnen: Der Mix ist nahezu perfekt – und neu. „Born To Die“ ist in Musik und visueller Sprache ein ausgereiftes Gesamtwerk, dass seine Mischung aus Nonchalance und Psychotrip in jedem Song hält. Dass Lana Del Rey auch in diesem Jahr mit „Norman Fucking Rockwell” wieder eines der im Mainstream relevantesten Werke veröffentlicht, hat sie dem Pop-Neuanfang zu verdanken, für den sie 2012 einen Grundstein legt.

Ein Album in der Bachelorarbeit

Und wo wir gerade bei Neuanfängen sind: In den folgenden Jahren sind meine liebsten Alben meist nicht die alter LieblingskünstlerInnen, sondern solche, durch die ich Musik und die KünstlerInnen dahinter neu kennenlerne. 2015 fasziniert mich die Schwedin Seinabo Sey, als sie mit ihrem Soul-Pop-Debüt „Pretend” und dem Hit „Younger” Meta-Fragen übers Leben aufwirft. Geklärt habe ich die bis heute nicht. Gleichzeitig bin ich Fan von Florence + The Machine, deren Musik ich zwar immer kannte und mochte, aber erst verfolge, seit „How Big, How Blue, How Beautiful” erschien. Bis heute ist dieses Album für mich eine der konsequentesten LPs der Dekade. Seinen visuellen Teil analysiere ich sogar zwei Jahre später in meiner Bachelorarbeit. Und dann ist da noch „Art Angels” von Grimes – noch so ein Fandom, in das ich viel zu spät einsteige. Zuerst kann ich hier keinen der Tracks so richtig unterscheiden. Heute höre ich sie einzeln oder am Stück und weiß, dass „Art Angels” eingängige Pop-Hooks mit Avantgarde verbindet. So, wie es eben nur Grimes kann. Gäbe es ein festes Ranking, ich würde mich zu einem zweiten Platz hinreißen lassen.

Von Großbritannien nach Harlem

Ein Jahr später sind es der minimalistische Sound der britischen Künstlerin Holly Fletcher a.k.a Låpsley und ihr Album „Long Way Home”, die mich begeistern. Sie klingen nach Zugfahrten mit beschlagenen Fenstern und Momenten, in denen niemand etwas sagt. 2019 bringt Låpsley ihre erste EP seit drei Jahren raus und es ist überhaupt nicht schlimm, dass deren vier Songs genauso klingen wie vorher. Oder: Es ist überhaupt nicht schlimm, dass Låpsley eine Zeit lang wirklich nichts gesagt hat. Ähnlich große Ruhe strahlt für mich „K.T.S.E.” von Teyana Taylor aus. Zwar enthält das Album auch den Voguing-inspirierten Song „WTP”, steht aber sonst für soundtechnische Entspannung, für gleichzeitigen Tiefgang und Dreier-Bettgeschichten, für die Erzählungen Taylors in manchmal fast kitschigen Metaphern. Wäre man unbedarft, Teyana Taylors „K.T.S.E” trüge wohl den Playlist-Titel „Chill“. Wie unfair, schließlich verdienen die von Kanye West co-produzierten 23 Minuten auf diesem Album viel mehr.

Lieber auf Französisch

So, wie Christine and The Queens. Auch wenn ich fast ausschließlich englische Musik höre, habe ich ein großes Interesse an anderen Sprachen – vor allem Französisch – und immer wieder an der zugehörigen Musik. Ich bin deshalb mehr als happy, dass sich Chris dafür entscheidet, ihre großartigen Alben „Chaleur Humaine” (2014) und „Chris” (2018) in zwei Sprachen zu veröffentlichen, von denen ich ausschließlich die französische Version höre. Nicht aus Prestige-Gründen oder Arroganz, nicht aus Pretentiousness, sondern schlichtweg, weil man die französische Pop-Industrie eben nur in ihrer eigenen Sprache aufmischen kann. Es ist schade, dass auch in dieser Dekade nicht-englischsprachige Künstler ihre Songs noch häufig auf Englisch einspielen müssen, um sie über die eigenen Landesgrenzen hinaus zu vermarkten. Der in dieser Dekade noch einmal gewachsene Hype um Reggeaton und KünstlerInnen wie Rosalía dürften das in den folgenden zehn Jahren hoffentlich ändern.

Future Is Now: In die Zukunft mit Charli XCX

Wer bis hierhin durchgehalten hat, merkt, dass ich mich absolut nicht entscheiden kann. Zu einer Erkenntnis bin ich aber gekommen: Egal, was Spotify Wrapped mir erzählen will, mein Musikgeschmack hat sich in den letzten Jahren „verbreitert”. Das führt auch dazu, dass ich keine wirklichen LieblingskünstlerInnen mehr auflisten könnte. Na ja, bis auf eine eben. Als Charli XCX 2017 ihre Mixtapes „No. 1 Angel” und „Pop 2” und 2019 ihr Album „Charli” droppt, wird meine Musikwelt erneut nachhaltig aufgewühlt. Charli erfindet sich jenseits der Charts neu und zeigt den künstlerischen Use von Autotune, führt in die Welt des trendangebenden Londoner Labels PC Music ein. Sie bleibt eine unterschätzte Künstlerin, die die Popwelt vielleicht nicht auf dem obersten Treppchen vorantreibt, aber längst nicht unentdeckt bleibt. Sie ist die Meisterin der Collabs mit neuen Artists, weiß Nostalgie mit Futurismus zu verbinden und hört nie auf, etwas Neues zu schaffen. Dabei bleibt sie natürlich und bietet ihrer Fanbase ein Zuhause in- und außerhalb von Clubs. Spotify Wrapped nennt sie meine Künstlerin der Dekade und ja, mit dieser Erkenntnis bin ich ausnahmsweise einverstanden.

Bei einer weiteren Erkenntnis ist das aber überhaupt nicht der Fall. Ich weiß: Teile meines Musikgeschmacks – jedenfalls Teile in diesem Text – sind fucking white. Dass mein Bild von Popkultur noch derartig geprägt ist, liegt wohl besonders in einer Dekade, in der Hip Hop und RnB zum Mainstream geworden sind, nicht an dem Mangel an diversen Optionen – auch wenn das Pop-Feld längst nicht gerecht verteilt ist und ihm noch immer rassistische Systeme zugrundeliegen. Es liegt an mir selbst, liegt an meiner Filterblase und an meinem Umfeld. Das mag eine Erklärung, aber keine Rechtfertigung dafür sein, wie einschlägig meine Playlists zu Teenie-Zeiten und zu Beginn meiner Zwanziger zum Teil noch waren. Dass es sich hierbei um eine offensichtliche Erkenntnis handelt, deren Benennung längst überfällig ist – klar. Vielmehr geht es bei so einem „Ranking” ja darum, den darin liegenden Bias immer wieder zu erkennen, zu hinterfragen und dementsprechend zu handeln. Er resultiert in einem Standard, den ich nur noch einmal mehr auf die nächste Dekade anwenden kann.

Das Album soll bleiben – auch in der nächsten Dekade

Dieses Ranking, das irgendwie keines ist, mag anfechtbar sein. Durch und durch subjektiv ist es in jedem Fall. Wie kann man schließlich Großmeisterinnen wie Beyoncé auslassen? Darauf steht popkultureller Hochverrat. Viele großartige Alben aber haben es nicht in meine persönliche Liste (und das bleibt sie: persönlich) geschafft, weil sie für mich nicht die Aufgabe eines Albums erfüllen: Eine konsequente Geschichte zu erzählen, in Sound und Lyrics. (Ja, dass „Lemonade” und „Beyoncé” genau das tun, weiß ich trotzdem.) Heißt nicht, dass jeder Song gleich klingen sollte. Über Rihannas Album „ANTi” schrieb man zum Beispiel, es sei ihr erstes Werk, das keine reine Aneinanderreihung von Singles sei. Dieses Gefühl teile ich in Zeiten von Streaming und Playlists mehr denn je. Ich glaube daran, dass ein Album eine Geschichte erzählen kann. Dass die Anzahl, Reihenfolge und Komposition seiner Tracks Sinn ergibt und Intention hat. Dass sie individuell gehört werden können, aber zusammen wie eine Familie sind. Ich glaube daran, dass ich mir auch am Ende der nächsten Dekade den Kopf nicht nur über einzelne Songs zerbrechen werde. Ich glaube an das Album.

Illustration Header: Sofia Rezunov 

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Robin Micha
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