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Über Taylor Swift und den seltsamen Aufstieg des Lyric Videos

Look what you made us do.

Text: Harry Harris // Bilder via NYLON.com

Pop hatte schon immer eine ziemliche Laissez-faire-Einstellung gegenüber der Sprache. Siehe: „Lovely Lady Lumps“ („My Humps“ von den Black Eyed Peas), „Cakes left out in the rain“ („MacArthur Park“ von Jimmy Webb), „Sex on Fire“ (Kings of Leon) oder „Crumbling like pastries“ („The A Team“ von Ed Sheeran). Während in einigen anderen Genres der Songwriter im Mittelpunkt der Musik steht und seine oder ihre Texte die Bedeutung des Songs lenken, ist im Pop die Rolle des Songwriters etwas nebulöser. Die Tatsache, dass mehrere Songwriter an einem Lied schreiben, stößt bei vielen auf Unverständnis – und so existiert häufig eine Trennung zwischen dem Sänger und dem, was er singt. Daher verzeihen wir leichter seltsame Textpassagen. Hooks, Melodien, Refrains, die gesamte Produktion: Das sind die Dinge, die wir an Popmusik lieben, nicht so sehr die Texte.  Allerdings scheinen sich die Zeiten zu ändern. Mit dem Aufkommen des Lyrikvideos werden Worte immer wichtiger. Diese Form hat seit einigen Jahren an Bedeutung gewonnen – wie ein Artikel von 2014 gut zusammenfasst und unter anderem zeigt, dass die Video-Plattform Vevo die Zahl der Lyrikvideos in ihrer Bibliothek von weniger als 400 im Jahr 2012 auf fünfmal so viele im Jahr 2014 angehoben hat. Dafür gibt es wirtschaftliche Gründe, schließlich sind Lyrikvideos kostengünstiger und schneller produziert als normale Musikvideos. Auch ist da das Argument, Lyrikvideos würden CD-Booklet-Texte ersetzen, aber vielleicht interessieren wir uns mittlerweile auch einfach nur mehr dafür. Früher waren wir von unseren Popstars getrennt und verehrten sie als unbegreifliche Idole. Heute sind wir mehr ein Teil von ihnen und bereit, in allem eine Bedeutung zu finden. Das Lyrikvideo bedient das.

Bevor wir starten, lohnt es sich, auf das Offensichtliche zu verweisen: Alle Lyrikvideos sehen aus wie die „Oompa Loompa“-Einlagen in „Charlie und die Schokoladenfabrik“. Ob Ed Sheerans „Shape of You“– raffiniert und psychedelisch mit vielen verschiedenen visuellen Verweisen – oder dieses neue von Folk-Punk-Troubadour Billy Bragg, das eher so aussieht, als sei es günstig und auf die Schnelle gemacht worden: Im Grunde sind sie alle farbige Worte, die erklären, dass Violet Beauregarde (aus „Charlie und die Schokoladenfabrik“) sich soeben in eine Blaubeere verwandelt hat. Bob Dylans „Subterranean Homesick Blues“ wird oft als Early Adopter dieser Videoform genannt, aber es enthält nur gewisse Worte und manchmal auch die falschen. Also nein: Es sind definitiv die „Oompa Loompas“. (Um es klar zu stellen: Der entscheidende Einfluss auf die visuelle Pop-Musik im Jahr 2017 sind die „Oompa Loompas“. Das kann ich gar nicht genug betonen.)  Aber hey, ist die Funktion der Lyrikvideos heute wirklich so anders? Mit den „Oompa Loompas“ komprimierte man die seltsame und für einen Kinderfilm leicht makabere Geschichte in einen kurzen Sketch und fasste zusammen, was bisher geschehen war, damit wir nicht den Faden verlieren. Im Fall von Taylor Swifts „Look What You Made Me Do“ ist es dasselbe.

Taylor musste uns auf den neuesten Stand bringen. Über den öffentlichen Applaus, den sie für „1989“ erhielt. Über ihren Beef mit Katy Perry, Kanye West und Kim Kardashian. Und über die Reaktionen gegen sie infolge der Kardashians, Nicki Minaj und der ganzen Sache mit den Schlangen. Sie konnte niemals mit einem Song zurückkehren, der nur „ein Song“ war. Auch konnte sie nichts herausbringen, das größere kulturelle Themen als Beyoncé mit „Lemonade“ anpackte. So ist sie einfach nicht. Das Lyrikvideo passt daher perfekt zu ihrem Seifenopern-Pop. Gekritzelte Texte laden uns dazu ein, die Musik wie ein Tagebuch zu lesen. Ein kürzlich erschienener VICE-Artikel – sowie viele andere Stellen – bezeichnen Taylor „in erster Linie [als] eine Geschäftsfrau“, aber das stimmt so nicht. Taylor ist in erste Linie eine Country-Sängerin, die in dem „Three Chords and the Truth“-Gospel von Nashville geschult wurde. Ihre Lieder waren immer autobiographisch oder zumindest stand es uns immer frei, sie als autobiographisch zu interpretieren. Auch wenn sie nicht mit einer phänomenalen Stimmenbandbreite oder einfallsreichen Melodiestrukturen gesegnet sind, stehen und fallen ihre Songs mit ihren Texten. Nicht mit ihrer Poesie, sondern buchstäblich mit der Bedeutung, die man aus ihnen ableiten kann.

Das ist besonders interessant, wenn man sich anschaut, wo Kunst und Kultur im Ganzen derzeit stehen. Um die britischen Künstler Luke Turner und Nastja Rönkkö zu zitieren, die durch die Zusammenarbeit mit Shia LaBeouf an #AllMyMovies und #Introductions bekannt wurden, bewegen wir uns in eine Ära der Metamoderne. In diesem „BuzzFeed“-Interview beschreibt Luke Turner Metamoderne als „zusammenbrechende Distanz, die den kühlen Abstand der Postmoderne ablehnt und stattdessen Emotionen umarmt.“ Turner weiter: „Ich denke, es spricht einfach nur aus, was unsere Generation intuitiv versteht, der kulturelle Modus, in dem wir leben, dass reine Ironie und Dekonstruktion nicht länger nützlich sind, um voranzukommen. Ich würde argumentieren, dass es der dominierende Modus ist, in dem Künstler unserer Generation heute arbeiten.“ Es sind diese Parameter, die den Erfolg des Lyrikvideos am besten erklären.

Dadurch, dass die Liedtexte in den Vordergrund gestellt werden – besonders wenn das Lied erstmals erscheint – stellt man auch den Autor in den Vordergrund und definiert ihn in gewisser Weise als Sänger. Und ignoriert dadurch die ziemlich langweilige Debatte darüber, wie viele Songwriter an einem Track mitgearbeitet haben. Angesichts der Tatsache, dass das Publikum Musik – und insgesamt Kunst – heute mit Haut und Haaren konsumiert, eröffnet dies einen Dialog der Bedeutung und Interpretation. In Verbindung mit der visuellen Sprache, die das Internet fließend spricht – Memes, Emojis, etc. – wird die Bedeutung weiter gestärkt und der Text reicher. Wo die Postmoderne den Autor umbrachte, hat die Metamoderne ihn wiederbelebt. Oder um wieder Turner zu zitieren: „In einer metamodernen Welt vergleiche ich den Autor mit Schrödingers Katze… gleichzeitig tot und lebendig.“

Während dieses künstlerische Umfeld Pop-Stars wie Swift aufblühen lässt, erhöht es gleichzeitig die Einsätze. Eine Sache, für die Swift immer wieder kritisiert wird, ist ihre offensichtliche Weigerung, sich in der amerikanischen Politik zu engagieren. Ihre Haltung wird als stillschweigende Billigung Donald Trumps interpretiert. Einige argumentieren, diese Einstellung sei eine Geschäftsentscheidung. Aber sicherlich ist Taylor viel zu groß, um das Schicksal der Dixie Chicks zu erleiden, die sich 2003 gegen George Bush aussprachen und anschließend aus der Mainstream-Country-Szene verbannt wurden. Während sich ihre Altersgenossen zumindest von Trump distanzierten und viele Hip-Hop-Stars in ihre Songs eine schärfere politische Kante einbauten, gestattet Taylor Weltereignissen nicht, ihre Arbeit zu beeinflussen. In einer metamodernen Welt ist diese Ablehnung von Engagement nicht gut genug, dein Schweigen wird von deinem Publikum ausgefüllt. Die Folge dessen, dass unsere Aufmerksamkeit auf das gerichtet wird, was gesagt wird, ist auch, dass wir genau sehen, was nicht gesagt wird.

 

 

Robin Micha
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