Coming Out: Wie ihr die Weihnachtstage überlebt
Auch wenn Weihnachten noch einen ganzen Monat entfernt ist, kann es Situationen geben, die uns schon Wochen vorher stressen: Zum Beispiel, wenn die Family nichts von der eigenen Sexualität weiß. Wir haben mit einer Queer-Psychologin gesprochen und bereiten euch auf (hoffentlich) entspannte Feiertage vor.
Text: Bailey Calfee // Bild: Sarah Lutkenhaus via NYLON.com
Bevor ich mich gegenüber meiner Familie geoutet habe, habe ich – wie die meisten von uns – lange Zeit nichts gesagt. Kein Zeitpunkt fühlte sich „richtig” an, um meiner Familie zu sagen, dass ich homosexuell bin. Das Thema hat mich ständig beschäftigt. Ich hatte Glück, keine Angst davor zu haben, dass ich von ihnen abgelehnt werde – obwohl meine Familie konservativ ist, wusste ich, dass sie mich immer so lieben würde, wie ich bin – aber ich fühlte immer noch das Bedürfnis, mich auf die „richtige Art und Weise” zu outen, was auch immer das bedeutet. Es gab also Monate, in denen ich mich versteckt habe und stumm blieb, damit ich den richtigen Moment finden konnte, um das, was mir so schwer fiel, endlich rauszubekommen.
Während ich schwieg, fühlte ich mich wie eine Betrügerin. Ich habe nie ganz gelogen, aber weil ich durch mein Schweigen ja doch irgendwie log, fühlte ich mich extrem schuldig – so sehr, dass es auch das Bild meiner eigenen Identität beeinträchtigt hat. Das Gefühl, dass es meine Sexualität wert ist, versteckt zu werden, verschaffte mir den Eindruck, mich dafür schämen zu müssen. Für mich haben Familientreffen solche Emotionen auf extreme Weise ausgelöst.
Wie bereits gesagt hatte ich das große Glück, dass ich mir keine Sorgen gemacht habe, wegen meiner Sexualität aus meiner Familie ausgeschlossen zu werden. Für so viele andere homosexuelle Menschen kann es aber unmöglich oder sogar gefährlich sein, sich gegenüber ihrer Familie zu öffnen. Also beschließen sie, die Wahrheit zu verheimlichen und sich nicht selbst zu gefährden. Und gerade jetzt, da die Zeit der ununterbrochenen Weihnachtsfeierei vor uns liegt, können Situationen, in denen wir das Gefühl haben, nicht wir selbst zu sein, vielerlei Konsequenzen haben.
Stephanie Peña, Psychotherapeutin und Expertin für als queer identifizierende Menschen, stimmt zu, dass Einzelpersonen sich dazu entscheiden können, ihr Geschlecht oder ihre Sexualität vor ihren Familienmitgliedern zu verbergen, „aus Angst vor Ablehnung, Mobbing oder anderen Formen von Gewalt (mental, finanziell oder geschlechtsbezogen)“. Für so viele von uns ist es am sichersten, ungeoutet zu bleiben. Aber gleichzeitig kann es sich anfühlen, als würde man etwas verbergen, was wiederum ebenfalls unzählige unbequeme Emotionen auslösen kann: Peña bemerkt, dass man sich wie „in einem Konflikt, eingesperrt, isoliert und umauthentisch sich selbst gegenüber” fühlen kann. Das kann „sehr schmerzhaft sein und sicherlich Traurigkeit verursach[en]“.
Es bringt zwar nie Spaß oder Erfüllung, einen Teil von euch vor anderen zu verbergen, aber es gibt bestimmte Bereiche, in denen es eine sicherere Option ist, diesen Aspekt der eigenen Identität auszulassen. Wenn ihr wisst, dass eure Familie eine homophobe Haltung einnimmt, dann ist es vielleicht die beste Möglichkeit, sich selbst zu schützen – da ist nichts falsch dran. Außerdem kann es manchmal auch anstrengend sein, sich gegenüber jemandem mit begrenztem Wissen über queere Identitätspolitik zu outen. Da gehört dann nämlich mehr dazu, als nur zu sagen: „Ich bin [hier Identität oder Sexualität einfügen]“.
„Oft wird von uns eine Art Bildungs- und Vokabelunterricht in diesem Bereich verlangt”, sagt Peña, „besonders wenn man in den Trans- und/oder Queer-Teil des Regenbogens fällt.“ Und jemandem, der eine Identität nicht verstehen kann oder will, seine eigene zu erklären, kann schwierig sein: „Es reicht nicht aus, sich zu outen, und das kann eine Menge emotionaler Arbeit erfordern”. Es ist also völlig in Ordnung, solche Situationen vermeiden zu wollen, besonders in den Ferien. „Die Feiertage sind schon so stressig genug”, betont Peña.
Wenn es um die Schuldgefühle geht, die damit einhergehen, dass man seine Sexualität oder Geschlechtsidentität nicht preisgeben kann, plädiert Peña dafür, sich daran zu erinnern, dass man auch andere Support-Systeme haben kann. Dazu gehören Menschen, die euch mit eurer Sexualität oder Geschlechtsidentität akzeptieren. Mitglieder der LGBTQ-Community haben oft eine Art „auserwählte Familie” von Menschen, die sie akzeptieren und vielleicht sogar etwas Ähnliches durchmachen. „Wenn möglich, saugt vor dem Urlaub die Unterstützung von Freunden und der auserwählten Familie auf”, schlägt Peña vor. „Ihr könnt euch an ihre Bestätigung erinnern, wenn Schuldgefühle aufkommen.” Wenn ihr diese negativen Emotionen fühlt, kann es allein schwierig sein, sich daran zu erinnern, dass mit euch alles in Ordnung ist und dass ihr die Situation so gut wie möglich handhabt. Wenn ihr aber mit vielen positiven Vibes vorbereitet werdet, kann diese Hilfestellung es erleichtern, sich an den eigenen Wert zu erinnern.
Wenn euch trotzdem negative Gefühle überkommen, rät Peña dringend dazu, euch um euch selbst zu kümmern, sei es durch Sport oder bei Aktivitäten, die euch Spaß machen. „Nehmt eine Auszeit um rauszukommen, mit Freunden oder Familie, biologisch oder auserwählt, die euch unterstützen, und verwöhnt euch!“, sagt sie. „Selbstfürsorge ist besonders wichtig in schwierigen Zeiten.“ Und vor allem: Seid nett zu euch selbst. „Denkt daran, dass ihr belastbar seid und dass ihr die richtige Entscheidung für eure Situation treffen werdet. Nur ihr könnt bestimmen, wann die beste Zeit ist, euch wem gegenüber zu outen.“
Offensichtlich zieht es niemand freiwillig vor, ungeoutet zu bleiben, denn das Gefühl, dass man nicht die beste, authentischste Version von sich selbst ist, kann unangenehm sein oder verunsichern. Wenn man gezwungen ist, einen Teil von sich selbst für die eigene Sicherheit oder den Komfort anderer zu verbergen, können Schuldgefühle aufkommen – als würde man die eigene Familie belügen. Aber das ist eigentlich nicht der Fall. „Ihr könnt nach wie vor bedeutsame Beziehungen aufrecht erhalten und pflegen, auch wenn ihr Informationen über eure Sexualität auslasst“, versichert Peña denjenigen in dieser Situation: „Während die sexuelle Orientierung einen wichtigen Teil davon einnimmt, wer man ist, ist sie auch nicht alles. Man kann auch in anderen Situationen und Gesprächen, die sich nicht ums Liebesleben drehen, aufrichtig und ehrlich sein.“ Denkt vor allem daran, dass ihr nicht „fake” seid, indem ihr eure sexuelle oder geschlechtsspezifische Orientierung nicht teilt.
Peña erwähnt aber auch, dass Zweifel an der Reaktion eurer Familie nicht unbedingt bedeuten, dass sie sich bewahrheiten werden. „Manchmal kann uns unsere Familie überraschen„, sagt sie. „Ich denke, es ist in Ordnung, eine ,Erwarte das Beste, bereite dich aber auf das Schlimmste vor‘-Mentalität zu haben.“ Das bedeutet nicht, dass ein Familientreffen genau der richtige Zeitpunkt wäre, um sich outen, aber seid offen für die Möglichkeit, dass man euch akzeptiert. Wenn man sich dafür entscheidet, diese Brücke zu überqueren, könnte das das Gefühl der großen Lügen beseitigen. Oder zumindest lindern.
Wir leben noch immer in einer Welt, die andere Sexualitäten als Hetero oder Geschlechter, die nicht dem biologischen entsprechen, nicht vollständig versteht oder akzeptiert. Und dieses Vorurteil kann sich, auch wenn wir es jeden Tag auf irgendeiner Ebene behandeln, entfremdend und noch härter anfühlen, wenn es von der eigenen Familie kommt. Aber eines bleibt immer wichtig: Sich daran zu erinnern, dass es möglich ist, ehrlich zu sein, ohne über die Sexualität zu sprechen, und dass eure Identität immer noch genauso gültig ist, selbst wenn wir in einer Welt leben, die nicht immer daran glaubt.