Boys Do Cry: Wie der Sadboi das Kino erobert
Boys don’t cry? Das Kino belehrt uns derzeit eines Besseren. Denn mit den Filmen „Boy Erased“, „Mid90s“ und „Beautiful Boy“ haben wir drei neue Coming-of-Age-Filme in Aussicht, die beweisen: Oh yes, they do.
Text: Ella Kemp
Gleich am Anfang von „Boy Erased“ bittet der Cheftherapeut einer Konversionstherapie für Schwule in einem Raum voller Teenager um ein Handzeichen von jedem, der sich unvollkommen fühlt. Daraufhin erhebt sich zaghaft aber sicher ein Meer aus Armen. Letztendlich melden sich mehr Jungs als Mädchen – überraschte Blicke wandern durch den Raum. Einer der Boys, die mit der Umwandlungstherapie gegen ihre Dämonen kämpfen sollen, ist der Protagonist Jared Eamons, gespielt von Lucas Hedges. Schwul zu sein ist in „Boy Erased“ ein Zustand, den es zu behandeln gilt, genau wie jede andere Krankheit.
Das beliebte Coming-of-Age-Genre dominieren derzeit vor allem Teenager, die in alltäglichen Situationen mit Angst zu kämpfen haben. Dass es in den meisten Filmen aus der nahen Vergangenheit um Daily Struggles aus Übergangsphasen im Teen-Alter geht, macht sie besonders zugänglich. Denkt zum Beispiel an die fast erdrückende Normalität der ersten großen Liebe, wie sie in „Call Me By Your Name“ thematisiert wird. Oder an die „Lady Bird“‚sche Unruhe, die das Abschlussjahr mit sich bringt. Diesen Herbst sind die Qualen, die Teens durchstehen müssen, jedoch nochmal eine Spur härter. Denn anstatt durch „natürliches” Erwachsenwerden ohnehin irgendwie Leiden zu müssen, werden die Jungs in diesen Filmen durch das, was ihren Schmerz auslöst, definiert. Sei es die Gehirnwäsche aus„Boy Erased“, der Rausch im Drama „Beautiful Boy“ oder das Mobbing im Indie-Streifen „Mid90s“ – der „Sadboi” hat sich etabliert. Wenn sie dabei noch erwachsen werden, ist das nicht viel mehr als ein netter Nebeneffekt.
Jareds Sexualität wird ihm in„Boy Erased“ als Feind im eigenen Körper präsentiert, noch bevor er überhaupt Zeit hat, sie zu verstehen. Als jemand ihn bei seinen Eltern outet, wird aus seiner Unsicherheit eine unbestreitbare Unvollkommenheit, die schnell behoben werden muss. Die Dinge, die ihn quälen, sind nicht mehr nur das Produkt seines eigenen Selbstzweifels, sondern eine Tatsache, an die jeder zu glauben scheint: Er ist einfach so, wie er ist und das ist nicht gut genug.
In „Beautiful Boy“ muss Nic Sheff (gespielt von Timothée Chalamet) ganz allein mit seinem Drogenmissbrauch kämpfen, aber seine Beziehung zu Crystal Meth hat letztendlich doch großen Einfluss auf seinen Vater David (gespielt von Steve Carell) sowie Nics Familie und Freunde. Die Sucht ist eine selbstverschuldete und unkontrollierbare Form des Leidens, mit der er sich auseinandersetzen muss, so sehr er auch versucht, ihr zu entkommen.
In Jonah Hills Regiedebut Mid90s muss der männliche Protagonist mit einem etwas weniger lebensbedrohlichen Konflikt klarkommen, weniger Qual erleidet er deswegen trotzdem nicht. Schließlich ist Stevie (gespielt von Sunny Suljic) mit gerade einmal 13 Jahren bedeutend jünger als Jared und Nic. „Mid90s“ zeigt seinen Leidensweg, den er vor dem Hintergrund der Besessenheit von Freundschaft beschreitet. Denn weil Stevie um jeden Preis cool sein will, stellt er sich den physischen und psychischen Gemeinheiten der aufregenden Teenie-Jahre und nimmt sie dadurch nicht nur an, sondern macht sich so auch von ihrem Druck frei. Während „Boy Erased“ und „Beautiful Boy“ äußere Einflüsse einkalkuliert, die emotionale Narben bilden, zeigt „Mid90s“ „nur” das Leiden in physischer Form – und doch kommt sein Protagonist nicht mit weniger Kratzern davon.
Wichtig ist das Erscheinungsbild aller Jungs: Alle drei sind weiß, schön, schlank. Das archetypische Ideal einer amerikanischen Kindheit. Eigentlich könnten sie alle in einem Film namens „Beautiful Boy“ mitspielen, ihre weiße Haut ist schließlich glatt und ihre Kiefer sind stark. Vorbei ist es mit den Teenie-Protagonisten, die mit Makeln wie Unreinheiten zu tun haben oder wenigstens irgendeinen Fehler haben, mit dem man sich irgendwie identifizieren kann. Während Akne in „Lady Bird“ und Bo Burnhams „Eigth Grade“ dabei half, etwas näher an der Realität zu sein, macht die Schönheit das (teils selbstverursachte) Leiden dieser drei Teenie-Boys besonders spannend. Der Meth-Abhängige Nic kommt aus einer wohlhabenden Familie, die in einem großen Holzhaus wohnt, das von Sonnenstrahlen beschienen wird. Seine Knochen zeichnen sich stark ab und sein Haar ist voll und glänzend. Der Schaden, den er davonträgt, hat nichts mit der Welt gemein, in der er hineingeboren wurde: Ein behaglicher Haushalt, der eigentlich ein gutes Leben möglich machen könnte.
Jareds Zuhause ist genauso stabil wie Nics, dazu hat er einen starken Körperbau. Zusammen mit den anderen Jungs im schwulen Konversionszentrum namens Love In Action wirkt er auf mühelose und liebenswerte Weise attraktiv und andere fühlen sich so von ihm angezogen. Aber je mehr er anderen gefällt und Gefühle zeigt, umso mehr belastet ihn sein Gefühl des Versagens.
Stevie versteckt sich hinter einem Büschel aus schönem, braunem Haar und hüpft unermüdlich durch die Gegend, wahrscheinlich um die ihm fehlenden Zentimeter an Größe auszugleichen. Seine großen blauen Augen und sein freches Lächeln machen es allen leichter, sich in ihn zu verlieben. Doch sein schmaler Körperbau ist genau wie bei Nic etwas, was ihn anfälliger für Momente der Selbstzerstörung macht. Eins haben jedoch alle drei gemeinsam: Sie sind entweder nicht groß genug, nicht stark genug oder nicht cool genug, weshalb ihre natürlich Qualitäten, die sie so liebenswert machen, von anderen ignoriert werden. Ihre Lösung: Eine introspektive Reise, auf der sie sich selbst für all ihre Fehler und Makel bestrafen.
Dieser Blick nach innen macht für junge Männer aus Romantik eine heikle Angelegenheit, vor allem, wenn sie leiden bevor sie erste Erfahrungen wie Befriedigung machen können. Gerade in einem Alter, in dem die Hormone die Entscheidungen machen, haben alle drei schon Erfahrung mit Sex und das noch bevor sie die Kraft der Zwischenmenschlichkeit (ob gut oder böse) kennengelernt haben. Im Fall von Jared ist es ein traumatisches Erlebnis, das ihn dazu bringt, seine Sexualität in Frage zu stellen. Diese wird vor allem in den ersten Monaten seiner Konversionstherapie als ein Fleck auf seiner Identität betrachtet. Jemand anderen zu lieben ist nichts Schönes, wenn man sich dabei wie ein Alien im eigenen Körper fühlt. Nic durchlebt während der Geschichte eine On-Off-Beziehung mit einer Freundin. Wohl aus dem einfachen Grund, dass er sich noch nicht mal um sich selbst kümmern kann – wie also soll er jemand anderem die nötige Liebe schenken? Stevie macht eine Begegnung mit einem Mädchen, das älter als er selbst ist. Wäre sie ein Mädchen in seinem Alter, hätte sie sicher Problempotenzial. So ist sie jedoch eher eines von vielen Sprungbrettern auf einer herausfordernden Reise durch die Welt der Freundschaft, die sich nicht unbedingt auf Stevies eigentliche problematische Ambitionen auswirken. Die Jungs lehnen Romantik und Zuneigung eher ab statt ihre Partner zu Interaktion zu zwingen. Der Fakt, dass sie alle in Einsamkeit leben, ist eine Schande, aber er ist bezeichnend für ihren egozentrischen Lebenswandel. Sie alle sind einfach zu unreif dafür, mit anderen Gefühle auszutauschen. Sich dem bewusst zu sein anstatt der betroffenen Person ein Trauma zuzufügen, ist sicher eine willkommene Erleichterung.
Boy Erased läuft seit dem 2. November im Kino
Beautiful Boy startet am dem 31. Januar 2019
Mid90s startet Anfang nächsten Jahres in den USA, der Start in Deutschland ist noch nicht bekannt