Carly Rae Jepsen erzählt, warum sie selbst der rote Faden ihres neuen Albums ist
Carly Rae Jepsen ruhte sich nicht auf dem Erfolg ihres Mega-Hits „Call Me Maybe aus” und produzierte weitere emotionale Alben. Mit Beginn der Pandemie gab Carly Online-Dating und dem erneuten Zusammenleben mit der Familie eine Chance. Verarbeitet hat sie diese Erfahrungen auf ihrem neuen Album „The Loneliest Time”.
Einige Monate nach Beginn der Pandemie, inmitten der Einsamkeit, tat Carly Rae Jepsen etwas, von dem sie nie gedacht hätte, dass sie es tun würde: Sie meldete sich bei einer Dating-App an. „Ich weiß nicht einmal, ob ich es bereuen werde, dir das zu erzählen”, sagt Jepsen, die ein schlichtes weißes Tank-Top trägt und per Zoom aus ihrem Haus in Los Angeles zugeschaltet ist. In der Vergangenheit hatte sie sich an die Vorstellung geklammert, jemanden auf die altmodische Art und Weise kennenzulernen. Vielleicht beim Durchstöbern von Schallplatten oder in einer Buchhandlung, wenn das Buch herunterfällt und du und der Mann deiner Träume feststellen, dass ihr dasselbe lest – die Art von Liebeskomödie, die leicht von den überschwänglichen Liebeshymnen, auf die Jepsen spezialisiert ist, untermalt werden könnte. Aber da saß sie nun, zu Hause mit ihrer Katze, und swipte wie wir anderen auch.
Jepsen wusste dank Freund*innen, dass es beim Online-Dating zu „katastrophalen Erfahrungen” kommen kann, sagt sie. Außerdem machte sie sich auf einen Ansturm von „Call Me Maybe”-Witzen gefasst. Zum Glück blieben diese aus, und Jepsen lernte jemanden kennen, der sie zum Abendessen in sein Strandhaus in Malibu einlud – allerdings nicht, bevor er verriet, dass er bereits eine Freundin hatte. Ob sie ein Problem damit hätte?
Kleid und Ohrringe von Chanel, Ring von Established, Schuhe von Giuseppe Zanotti
Das hatte sie. Aber der Austausch ließ Jepsen am nächsten Morgen gestärkt ins Studio gehen, wo sie verkündete: „Ich habe ein Konzept! Die Hook wird lauten: ,I’ve got a beach house in Malibu, and I’m probably going to hurt your feelings.‘” Ihre Collaborators Alex Hope und Nate Cyphert waren zunächst verwirrt, als sie erklärte, dass es sich um einen Song über Dating-Apps handeln sollte. „Immer, wenn ich eine Erfahrung mache, von der ich nicht weiß, wie ich sie verarbeiten soll, halte ich sie schriftlich fest”, sagt Carly.
In welcher Ära sich Carly Rae Jepson gerade befindet? In ihrer eigenen
„Beach House” von Jepsens kommendem Album „The Loneliest Time“ weicht von der ernsthaften Sehnsucht ab, für die sie bekannt geworden ist. Es klingt auch wenig wie die Leadsingle „Western Wind”, deren Trommel-Vibe sich bereits von den Tanznummern abhebt, die sonst ein neues Jepsen-Projekt ankündigen. Die 36-jährige war noch nie eine, die sich für den typischen Griff entschieden hat. Sie ist eine eigene Art von Popstar: ein charmanter, gesprächiger Musical-Dork, der die Siedler von Catan liebt und „fast schon süchtig” Online-Schach spielt. Sie ist eine Person, die jederzeit eine alte Jazzplatte oder ein Stück aus der Zeit von „Stolz und Vorurteil” den neuesten Releases vorzieht. Die sich wie eine Oma anzog, lange bevor die Ästhetik von US-Küsten-Grannys in Mode war, sagen ihre Freund*innen. „Keines dieser Dinge würde man als cool bezeichnen”, sagt Carly. „Aber damit habe ich kein Problem, denn es ist das, was ich mag.”
„Ich sah Kommentare wie: ,Oh, du machst es wie Taylor Swift mit ,Out of the Woods’, und ich sagte: ,Nein, nein, nein. Erwartet das Unerwartete. In mir steckt eine Menge’”
Jumpsuit von Aliétte, Ohrringe von Yun Yun Sun, Handschuhe von Wing & Weft
Eigentlich ist Carly als eine Art Hohepriesterin der großen Gefühle bekannt, deren bekannteste Songs in der Regel so subtil sind wie pailettenbesetzte Kissen. Manche Fans warfen die ersten Ausschnitte aus ihrem Song „Western Wind” deshalb aus der Bahn. Auf Social Media wurden Witze darüber gemacht, dass Jepsen in ihre „Solar-Power-Ära“ eintrete, eine Anspielung auf Lordes Album von 2021, das die Synths gegen Bongos eintauschte und eher verhalten aufgenommen wurde.
„Ich sah Kommentare wie: ,Oh, du machst es wie Taylor Swift mit ,Out of the Woods’, und ich sagte: ,Nein, nein, nein. Erwartet das Unerwartete. In mir steckt eine Menge’”, sagt Jepsen. Sie hat genug von den Zwängen, die sie als Künstlerin, insbesondere als Frau in der Popmusik, verspürt, um in ihrer Spur zu bleiben. In einem der Tracks auf „The Loneliest Time”, einem an einen Western-Film angelehnten Liebeslied, klingt ihre Stimme zart und offen, begleitet von einer zurückgenommenen Gitarre. An anderer Stelle liefert sie nostalgische, Synthesizer-lastige Bops, die nur darauf warten, unter einer Discokugel gespielt zu werden. Carly ist eine glühende Verfechterin davon, der eigenen Muse zu folgen – egal ,wohin sie einen führt. „Ich möchte nicht das Gefühl haben, dass ich nur eine Sache bin und ich möchte auch nicht, dass mein Album sich so anfühlt. Ich habe diese Idee von Zusammenhang abgeschaltet. Ich bin der rote Faden”, sagt sie, während sie ihre Arme nach oben streckt und dann zur Seite öffnet, als wolle sie das Universum umschließen.
Top und Pantaboots von Balmain, Ohrringe von Uncommon Matters
Bittersüße Einsamkeit – Bubbly Pop trifft düstere Hymnen
Für jemanden, deren Albumtitel sich eher wie zarte Ausbrüche von Leidenschaft lesen – „Kiss” (2012), „E•MO•TION” (2015), „Dedicated” (2019) – wirkt „The Loneliest Time” wie ein ungewöhnlich pointiertes Statement. „Ich habe nicht versucht, etwas zu verstecken oder zu beschönigen – es war die einsamste Zeit”, sagt Jepsen. Nachdem sie die meiste Zeit des Jahres 2019 auf Tournee verbracht hatte, wurde sie plötzlich in ein einsames Leben zu Hause gedrängt („Gott sei Dank gibt es meine Katze”, sagt sie). „Erwachsenwerden” war eine Lebenskompetenz, die Jepsen nicht hatte, was sie peinlich berührt zugab. Sie zog Bilanz über das Leben, das sie sich aufgebaut hatte: Was fehlte? War sie wirklich glücklich? Über diese Fragen grübelte sie inmitten einer gewaltigen Welle der Trauer. „Wir haben während des [Lockdowns] zwei Familienmitglieder verloren und man kam einfach nicht nach Hause”, sagt Jepsen, die in Mission, British Columbia (Kanada) aufgewachsen ist. „Es war meine erste richtige Erfahrung mit Trauer, was keine Einfache ist, besonders wenn man zum ersten Mal alleine ist.”
„Sie könnte einen Song mit Messer und Gabel und einem Weinglas als musikalische Begleitung schreiben und dieser Song könnte das nächste ,Call Me Maybe‘ werden.”
„Das heißt nicht, dass [diese Zeit] nicht auch schön war. [Zum Beispiel] in Momenten, in denen ich etwas durchgestanden habe oder zu einer neuen Erkenntnis gekommen bin”, fährt sie fort. „Aber es war auch sehr, sehr real für mich, auf diese Weise mit meiner Einsamkeit konfrontiert zu werden. So wie die Liebe faszinierend ist, ist auch die Einsamkeit faszinierend für mich.” Es gab schon immer düsterere, sehnsüchtige Hymnen hinter ihren bubbly Singles – siehe: Fan-Lieblinge wie „Your Type” und „Gimmie Love” – und „The Loneliest Time” fühlte sich wie ein tieferer, bewussterer Schritt in diese Richtung an. Schon lange bewundert Jepsen die Ansätze von Billie Holiday und Haruki Murakami, dessen Romane sie unterwegs liest. „Er schafft es, die Einsamkeit irgendwie schön darzustellen”, sagt sie.
Kleid und Schuhe von Balenciaga
Während der ganzen Zeit der Ungewissheit hörte Jepsen nicht auf zu schreiben. Sie schickte ihrem Label etwa 30 bis 40 Songs, die sie für das Album in Betracht zog und die sie in einem „verrückten, wissenschaftlichen Prozess” mit Diagrammen und Voting-Systemen aus hundert Songideen auswählte. („Ich schreibe zu viel, das kann man nicht beschönigen.”) Bevor die Aufnahme im Studio sicher war, traf sie sich mit befreundeten Künstler*innen zu Songwriting-Sessions über Zoom. Aber anstatt einen bestimmten Sound oder eine bestimmte Mission anzustreben, wie sie es bei früheren Alben getan hatte, vertraute Jepsen auf das, was sich gut anfühlte. „Was so einfach ist, wenn man darüber nachdenkt”, sagt sie, „aber es war tatsächlich neu für mich, ein Album auf diese Weise zu betrachten.”
Aus diesem Impuls heraus entstand „Western Wind”, das von Jepsens Freund und Kollaborateur Rostam Batmanglij (früher Mitglied bei Vampire Weekend) produziert wurde. Als er ihr den Beat zum ersten Mal vorspielte – inspiriert von einem dreiwöchigen Aufenthalt im queeren Strandparadies Provincetown, Massachusetts –„habe ich nicht erwartet, dass [Carly] es mögen würde würde”, sagt er, „aber das tat sie sofort.” Jepsen verbrachte die ganze Nacht damit, „wie an einem Gedicht zu feilen”, sagt sie, und kam am nächsten Tag mit vielen Textideen ins Studio. Sie war ein wenig nervös wegen der Sanftheit des Songs, aber Rostam überzeugte sie, die Zurückhaltung als Stärke zu sehen. „Er hat die Künstlerin in mir so sehr unterstützt. Er sagt: ,Hab keine Angst, an diese Stellen vorzudringen‘. Und ich habe das Gefühl, dass ich mich dabei auf den Mut der Leute stützen kann.“
„Es ist wirklich wichtig, sich Momente zu nehmen, in denen man auch die Liebe und die Verbundenheit und die Güte der Welt spürt. Und wenn ich eine Vermittlerin von all dem sein kann, ein sicherer Raum, in dem das passieren kann, dann wäre das das Geschenk meines Lebens.” – Rostam Batmanglij über Carly Rae Jepsen
Ihre Karriere beweist, dass sie mehr ist als nur das „Call Me Maybe”-One-Hit-Wonder
Rostam führt Jepsens produktives Schaffen darauf zurück, dass sie zwischen zwei Welten pendelt. Sie ist eine Singer-Songwriterin im klassischen Sinne – ihr erstes Album „Tug of War” von 2008 ist ein weitgehend akustisches Folk-Pop-Album – die sich aber auch zu den vielen Möglichkeiten der Pop-Produktion hingezogen fühlt. „Sie beherrscht ihr Handwerk so gut, dass es ihr nicht um eine bestimmte Art der Umsetzung geht, sondern um einen großartigen Song”, sagt er. „Das ist die Magie von Carly. Sie könnte einen Song mit Messer und Gabel und einem Weinglas als musikalische Begleitung schreiben und dieser Song könnte das nächste ,Call Me Maybe‘ werden. Die Songs sprudeln nur so aus ihr heraus. Und als Collaborator […] versucht man, mit ihren Ideen Schritt zu halten.
Kleid und Ohrringe von Chanel, Ring von Established, Schuhe von Giuseppe Zanotti
Es ist etwas mehr als ein Jahrzehnt her, dass „Call Me Maybe” Jepsen, die in der fünften Staffel von „Canadian Idol” den dritten Platz belegte, zu Weltruhm verhalf. Der zuckersüße Song definierte neu, wie groß, schnell und unerbittlich ein Popsong in der Echokammer des Internets aufblühen und dann explodieren kann. In der Vergangenheit hat Jepsen ihre Beziehung zu „Call Me Maybe” als „Achterbahnfahrt” beschrieben. Die Größe des Songs drohte alles in den Schatten zu stellen, was sie danach tat. (Es ist ein Beweis für ihr Talent, dass dieser Fall nicht eintrat.) Und dennoch performt sie den Song immer noch mit Begeisterung und findet immer wieder neue Wege, ihn mit Emotionen zu füllen.
Bodysuit von Alexandre Vauthier
Im September wird Jepsen auf „The So Nice”-Tour gehen. Jepsens Konzerte sind seit langem ein Zufluchtsort für die LGBTQIA+-Community – insbesondere für queere Männer. Sie sieht es als ihre Aufgabe an, den Konzertbesucher*innen die Art von gemeinschaftlicher Heilung zu bieten, die Live-Musik geben kann, besonders in einem so strafenden Jahr wie 2022. „Nicht nur Eskapismus, bei dem man vergisst, sondern [bei dem] man sich erlaubt, Freude zu empfinden, Raum zum Feiern zu geben”, sagt sie. Ihre Stimme wird nachdenklich. „Es ist wirklich wichtig, sich Momente zu nehmen, in denen man auch die Liebe und die Verbundenheit und die Güte der Welt spürt. Und wenn ich eine Vermittlerin von all dem sein kann, ein sicherer Raum, in dem das passieren kann, dann wäre das das Geschenk meines Lebens.”
Während sie sich darauf vorbereitet, wieder auf Tour zu gehen, weiß Jepsen, dass „The Loneliest Time” auf den ersten Blick wie ein Downer klingen könnte. Aber die Sängerin sagt, dass sie in ihrer Einsamkeit ein Licht entdeckt hat .Der Impuls hinter ihren ekstatischen Liebesliedern ist immer noch da, er hat nur eine neue Form angenommen. Einsamkeit, sagt sie, „kann dazu führen, dass du verrückte Dinge tust, wie eine Dating-App herunterzuladen oder deine Familie […] für eine lange Zeit bei dir wohnen zu lassen, weil du sie so vermisst hast und dich dann fragst, warum du sie so überhaupt vermisst.” Carly muss so sehr lachen, dass sie beinahe auf den Bildschirm fällt . „Das war nur ein Scherz. Schreib das nicht. Ja, ich mag alles, was eine extreme Reaktion auslöst. Liebe tut das. Ich glaube, Einsamkeit auch. Sie kann uns irgendwie dazu bringen, verrückte Dinge zu tun.”
Bodysuit von Alexandre Vauthier, Stiefel von Roberto Cavalli
Text: Mitchell Kuga (es wurden Änderungen und Kürzungen vorgenommen)
Fotograf: Vijat Mohindra via NYLON.com
Stylist: Sue Choi
Set Designer: Kelly Fondry
Hair: Malcolm Marquez
Makeup: Gregory Arlt
Manicure: Emi Kudo
Talent Bookings: Special Projects
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