Ist Contouring endlich tot?
Wir sprachen mit Expertinnen, die es wissen müssen.
Text: Jenna Igneri // Illustration: Jihyang Lim
Egal, ob ihr Contouring liebt oder hasst: Vermutlich hat es in den letzten paar Jahren keinen solch populären Schönheitstrend gegeben – vorausgesetzt, ihr ignoriert Dinge wie Einhörner und Meerjungfrauen. Während es sicherlich verdientermaßen als Popkultur-Phänomen wahrgenommen werden darf (zusammen mit dem Ruhm der Reality-TV-Stars, die dieses Make-up tragen), finden viele von uns, dass es – nun ja – halt einfach viel sein kann. Und dass übertriebenes Contouring zu einer Art Epidemie geworden ist. Aber wird es jemals enden? Wer wüsste das besser als echte Beauty-Profis? Uns interessiert brennend, ob der Hype bleibt oder schlussendlich vor dem Aus steht. Also baten wir drei Make-up-Artists um ihre fachkundige Einschätzung der Lage.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt: Dieser Trend ist kein neues Konzept. All die super-intensiven Techniken, die wir aus unseren Instagram-Feeds kennen, haben eine lange Geschichte. Tatsächlich nämlich wurzelt Contouring in einer ganz anderen Gemeinschaft als der von Social-Media-Influencern und den Kardashians. „Es ist allgemein bekannt, dass Contouring in der Drag-Kultur begann. Es wurde verwendet, um die Illusion einer weiblichen Gesichtsform zu schaffen und Schatten zu kreieren, die spezielle Merkmale modellieren“, klärt uns die britische Visagistin Omayma Ramzy auf.
Aufgrund dieser Geschichte glauben einige Leute, es sei falsch, aus dieser Form der Make-up-Anwendung einen Mainstream-Hype zu machen. „Immer wenn ich über diesen verrückten Contouring-Trend spreche, denke ich, dass es im Grunde eine Aneignung aus der Drag-Queen-Kultur ist“, sagt die New Yorker Visagistin Ashleigh Ciucci. „Diese Techniken wurden seit Jahrzehnten von Drag-Queens benutzt. Und plötzlich springen alle Frauen auf den Zug auf und machen ihn zu ihrem eigenen.“ Doch wie konnte aus einer Schminktechnik der Drag-Szene eine der größten Beauty-Wellen werden, die jemals die sozialen Netzwerke getroffen hat? Nun, dafür dürfen wir ein paar speziellen Leuten danken. „Ich hasse es zu sagen, aber es ist eine Kreuzung aus den Kardashians und Instagram“, sagt Ashleigh Ciucci. „Die massive Popularität der K(ardashian)s gepaart mit der Selfie-Kultur ist der perfekte Sturm für die Geburt der aktuellen Contouring-Welle.“ Während das Konzept schon seit längerer Zeit auch außerhalb der Drag-Szene erprobt wurde (tatsächlich reichen frühe Techniken bis in die 1500er Jahre zurück), dominiert der Trend erst seit einiger Zeit unsere Feeds. „Ich denke, die neueren Generationen machen ganz andere Erfahrungen mit Contouring als diejenigen von uns, die als Make-up-Artists arbeiten und schon eine ganze Weile in der Branche sind“, glaubt Haar- und Make-up-Artist Lindsey Williams aus New York. Obwohl sie die Popularität dieses Hypes auch nicht schmälern will. „Wer möchte nicht so aussehen als sei er von den Göttern gemeißelt?!“ Ich vermute, darüber können wir nicht wirklich streiten. Und wir sind auch nicht hier, um persönliche Schönheitsvorlieben zu beurteilen. Die eigene Selbstentfaltung ist sogar äußerst wichtig. Wenn euch nach Neon-Lippenstift ist, der eurem Neon-Haar entspricht, sagen wir: ab dafür! Wenn ihr jeden Tag ungeschminkt aus dem Haus geht, salutieren wir vor euch. Und wenn ihr nach allen Regeln der Kunst konturieren wollt, tut es! Allerdings gibt es eine feine Linie zwischen Selbstentfaltung und der Veränderung eures Gesichts, um Perfektion zu erlangen. „Es ist so einfach, den Druck von Dingen wie Social Media und Instagram zu spüren, um einen ‚überperfekten’ Zustand zu erzielen, der wirklich nicht erreichbar ist und im wirklichen Leben ganz anders aussieht“, so Omayma Ramzy.
Lindsey Williams erzählt uns von einer kürzlichen Party-Erfahrung. „Ich war entsetzt, das konturierte ‚Insta-Make-up’ im wahren Leben zu sehen. Mindestens 90 Prozent der Leute im Raum hatten genau das gleiche Make-up. Ich fühlte mich wie unter einer bizarren Attacke der Contouring-Klone. Die Individualität im gesamten Raum war komplett verloren – und doch wollten sich alle voneinander abheben.“ Redakteure werden zustimmen, dass dies auch auf viele Branchen-Events zutrifft. Ich persönlich finde es unheimlich, wie einfach es ist, einen Instagram-Influencer auszumachen. Und das nicht, weil ich sie von ihren Feeds wieder erkenne, sondern aufgrund der großen Menge Make-up, die sie tragen, um ihre Selfies auf eine ganz bestimmte Art aussehen zu lassen.
Während alle Make-up-Artists, mit denen ich sprach, die Technik aktiv (zu einem gewissen Grad) in ihrer Arbeit verwenden, ist „Insta-Make-up“ niemals eine Option. „Ich sehe Schönheit in jedem Gesicht, das ich schminke, und ich denke, das macht es einfacher für mich, einen perfekt natürlichen Beauty-Look zu erzielen“, erzählt Ramzy. „Ich möchte dafür werben, dass wir schön sind, nicht das wir es sein müssen. Es gibt nichts, was ich mehr liebe als wirkliche Haut zu sehen, volle, echte Augenbrauen, natürliche Sommersprossen, die durchscheinen sowie die wahre Rötung der Haut. Ich meine, es ist doch cool zu sehen, wenn jemand tatsächlich errötet oder etwas Sonne getankt hat.“ Sie persönlich fühlt, dass der Contouring-Wahn aus dem Ruder gelaufen ist, indem er in jungen Frauen einen mitunter gefährlichen Wunsch nach Perfektion auslöst – bis hin zu bleibenden Veränderungen übers Make-up hinaus. „Ich sehe 19-jährige Mädchen mit Lippenfüllern in L.A., und es gibt einen gewissen kulturellen Druck, stets perfekt fürs Foto gerüstet zu sein. Ich hoffe, junge Mädchen haben heute nicht das Gefühl, ihre Gesichter dauerhaft verändern zu müssen, um in der Gesellschaft als schön wahrgenommen zu werden“, sagt sie.
Genau wie bei jeder Modeerscheinung, die mit der Zeit immens übersättigt, stellt sich die Frage: Wird die Beliebtheit von Contouring jemals aussterben? Für diejenigen von uns, die nicht gerne tonnenweise Make-up im Alltag tragen, hier eine gute Nachricht: Es sieht so aus, als würde der Trend in Richtung „Weniger ist mehr“ gehen. Frauen beginnen, sich für einen natürlicheren Look zu interessieren, und Beauty-Marken verlagern ihren Fokus von dekorativer Kosmetik auf Hautpflege. „Dank Marken wie ‚Glossier’ denke ich gern, dass wir eine Verlagerung von Make-up-Trends für die Massen hin zur Haut haben, die nun an erster Stelle steht“, glaubt Omayma Ramzy. „Vor diesem Hintergrund sehe ich auch eine größere Trennung innerhalb des Schönheitsempfindens. Am einen Ende steht das ‚Glossier’-Mädchen, am anderen trifft Contouring auf Wirklichkeit – mit der tatsächlichen Veränderung des Gesichts durch Auffüller und andere Injektionsmittel“.
Lindsey Williams bestätigt, puristischere, natürlichere Looks seien auf dem Vormarsch. „Schönheitstrends werden immer schwanken, aber ich glaube, cleanes Make-up wird auf Dauer ein wenig mehr akzeptiert. Vor allem, weil die Menschen ihre Schwierigkeiten haben, sich einzigartig und individuell zu fühlen – inmitten des Nachahmer-Stils, den sie eventuell angenommen haben“, sagt sie. Natürlich bedeutet das nur: Sobald ein Trend anfängt zu verblassen, wird ein anderer ihn ersetzen. Dieser Zyklus bewegt sich dank Social Media schneller als je zuvor, so dass Fotos und Videos innerhalb von Stunden viral gehen und so neue Trends und Modeerscheinungen im Handumdrehen auslösen. Ein Beispiel dafür wäre der Aufstieg von Highlighting und Strobing – das Gegenteil von Contouring, um genau zu sein. Was als nächstes kommt? Wir können nur abwarten. Doch auch wenn Schönheitstrends in ihrer Popularität schwanken, werden sie wahrscheinlich nicht für immer verschwinden. „Ich glaube nicht, dass Contouring jemals wirklich aussterben wird, weil es schon lange vor dieser aktuellen Trendwelle da war“, schätzt Ashleigh Ciucci. Sprich: Auch wenn Beauty-Influencer und Instagram-Stars langsam vor einem so stark geschminkten Gesicht zurückschrecken, mag diese Technik für immer in der Drag-Kultur weiterleben. Genau dort, wo sie einst begann.