Nein heißt Nein!
Wie man seine Kinder über sexuelles Einverständnis aufklärt. Eltern berichten.
Text: Beca Grimm
Jede neue Elterngeneration glaubt, klüger als die vorherige in Sachen Kindererziehung zu sein, so dass wiederum auch ihre Kinder irgendwann klüger als sie sein werden. Neue Technologien und Informationen spielen dabei eine wichtige Rolle, daher auch das ganze Gerede um den Benefit von Quinoa und Gerätschaften wie dieser „niedliche Heimroboter, der aussieht wie aus einem Pixar-Film“. Einige dieser neuen Entwicklungen werden den Älteren kaum mehr als ein Augenrollen und den Seufzer „So was hat es doch früher nicht gegeben“ entlocken, aber sie haben durchaus ihre Berechtigung. Denn früher war nicht nur alles ganz anders – den Kindern fehlte auch etwas Wesentliches: Weder unsere Eltern noch unser Schulsystem klärten uns über die tief verwurzelten Nuancen und die Wichtigkeit von sexuellem Einverständnis auf.
Vor kurzem machte Fusion eine Umfrage unter Männern darüber, was sie über das Thema gelernt hätten, und von einigen Antworten konnte einem einfach nur schlecht werden. Ein Mann berichtete: „Nett und aufmerksam sein waren die Punkte, die ein Typ sammelte, bis er genug für Sex zusammen hatte. Vergewaltigung galt als eine Gewalttat, bei der die Frau sich aktiv zur Wehr setzte. Wenn ein Mädchen nicht schrie und versuchte, dich runter zu schubsen, war es keine Vergewaltigung.“
Als ich aufwuchs, glaubte ich, dass Vergewaltigung und sexuelle Nötigung Dinge seien, die nur passieren könnten, wenn man nachts allein und im Minirock unterwegs ist; etwas, das nur Fremde tun und das sich nur um die erzwungene Penetration dreht. Ich will meinen Eltern und Lehrern nicht die Schuld daran geben, mir nicht mehr darüber erzählt zu haben; abgesehen davon, dass es unangenehm ist, über so etwas zu reden (was aber wiederum eine schlechte Entschuldigung dafür ist, ein so wichtiges Thema auszulassen), hatten wir in den 90ern einfach noch keine greifbare Terminologie dafür, keine Ausdrücke wie „sexuelles Einverständnis“. Daher brauchten wir ziemlich lange, um zu verstehen, dass auch Erlebnisse wie vom eigenen Partner zum Sex gezwungen oder betrunken gemacht zu werden, damit man mit jemanden ins Bett geht, mit dem man nüchtern nie schlafen würde etc., sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung sein können.
Es ist toll, dass an Schulen und Unis mittlerweile viel über sexuelles Einverständnis geredet wird, aber wichtig ist auch, dass diese Generation der nächsten die Bedeutung körperlicher Autonomie zu einem noch früheren Zeitpunkt beibringt, und dass dies mehr heißt, als nur ein starkes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Das Selbstbewusstsein deiner Tochter zu stärken und sie zum Karate zu schicken, ist super, erklärt ihr aber nicht, wie sie mit körperlichen oder sexuell motivierten Berührungen umgehen sollte. Wenn man im Internet nach „sexuellem Einverständnis“ sucht, landet man ganz schnell auf Seiten, die weder hilfreich noch kindgerecht sind. Es gibt einfach nichts, das ein richtiges Gespräch zwischen Kindern und Eltern ersetzen könnte.
Wir wollten wissen: Wie reden Eltern von heute mit ihren Kindern über sexuelles Einverständnis? Um das herauszufinden, haben wir mit acht Müttern und Vätern kleiner Kinder über ihre Ansätze gesprochen.
Für viele Eltern ist Kitzeln ein früher Indikator dafür, ab welchem Punkt Spaß in Bedrängnis umschlagen kann – und wie man dann ein klares „Nein“ kommuniziert.
Caroline: Ich habe zwei Söhne, zwei und drei Jahre alt, und Einverständnis ist bereits ein Thema bei uns. Wenn jemand umarmt oder geküsst werden möchte, der andere das aber nicht will, muss das akzeptiert werden. Wenn ich die Jungs kitzle und sie dann „Stopp“ sagen, höre ich sofort auf, selbst wenn sie noch lachen. Das Thema wird in den nächsten Jahren noch wichtiger werden, aber es ist niemals zu früh, ihnen die Grundlagen beizubringen.
Hollienoël: Meine Kinder sind sechs und fast fünf. Sie dürfen „Nein, danke“ sagen, wenn sie Fremde und auch Verwandte nicht umarmen oder küssen wollen – wir fragen dann immer, ob wir stattdessen ein High-Five bekommen, was sie aber auch einfach ablehnen können. Wir hören SOFORT auf, sie zu kitzeln, wenn sie es sagen. Die Kinder von Freunden frage ich immer, ob ich sie in den Arm nehmen dürfe, anstatt es einfach zu tun. Wenn meine Kinder ein Spaßkämpfchen machen, müssen sie aufhören, sobald einer „Stopp“ sagt, denn man darf den Körper von anderen nicht ohne Erlaubnis anfassen.
Haley: Da meine Kinder noch sehr jung sind, alle drei unter 10, haben wir noch keine expliziten Gespräche über sexuelles Einverständnis geführt, aber es gibt schon im frühen Alter Wege, deinen Kindern zu zeigen, wie sie sich selbst schützen, aber auch die Körper der anderen respektieren lernen können. Ich sage ihnen immer: „Wenn jemand sagt, du sollst aufhören, sie oder ihn anzufassen, zu umarmen oder zu kitzeln, musst du das akzeptieren.“ Auch wenn Geschwister untereinander die Grenzen immer wieder überschreiten, kann Respekt von anderen und ihren Körpern schon in frühem Alter gelernt werden.
Ein Verständnis von körperlicher Autonomie aufzubauen ist ein wichtiger Teil davon, über sexuelles Einverständnis reden zu können.
Erica: Wir haben von ihrem ersten Lebenstag an begonnen, unserer Tochter ein grundlegendes Konzept von körperlicher Autonomie nahe zu bringen. Auch, wenn es manche Leute merkwürdig finden, lasse ich sie mein Kind nicht anfassen, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Mit ihren 11 Monaten kann sie zwar noch nicht verbal antworten, aber von sich aus zum Beispiel nach jemandem greifen, um den Kontakt aufzubauen. Jetzt, wo sie dazu in der Lage ist, kann man sie auch nach einem High-Five fragen! Vielleicht übertreibe ich ein wenig, aber ich mache es ihr lieber direkt hundertprozentig klar, dass ihr Körper ihr und nur ihr gehört, und lasse keinen Raum für Mehrdeutigkeiten zu.
Michelle: Mein Sohn ist erst 18 Monate alt, aber ich versuche bereits, Folgendes zu verstärken: sanfte Berührungen, kein Schlagen/Schubsen etc., und niemand anders hat das Recht, ihn anzufassen, wenn er das nicht möchte, also keine Umarmungen etc., wenn er das nicht will, besonders nicht von Leuten, die nicht seine Eltern sind. Wenn er älter wird, werden wir dieses grundlegende Verständnis von der Autonomie des Körpers, seines und die der anderen, noch erweitern.
Hollienoël: Wir reden offen darüber, dass niemand außer dir selbst für deinen Körper verantwortlich ist – außer bei Regeln, die Sicherheit und Gesundheit betreffen. Über Anschnallen, Zähne putzen und Fahrradhelm tragen wird also nicht diskutiert. Aber auf Fotos lächeln, andere Leute umarmen und nicht ganz so gefährliche Dinge machen, wie von der Rutsche zu springen? Deine Entscheidung.
Haley: Ich glaube, dass es sehr wichtig ist, unseren Kindern schon im Krabbelalter beizubringen, das ihre Körper ihnen gehören. Sie müssen nichts mit ihren Körpern machen, was ihnen unangenehm ist, wie etwa andere zu umarmen oder zu küssen, und sie dürfen das auch laut sagen. Ich finde es richtig gut, dass meine fünfjährige Tochter mir vor kurzem erzählt hat, dass es „peinlich“ war, als sie im Tanzkurs „mit dem Hintern wackeln“ sollte, und sie deshalb nicht mehr dort hingehen will. Ich glaube, durch diese Sensibilisierung für sexuellen Missbrauch hat sie sich sicher gefühlt, mir das erzählen zu können, und selbstbewusst genug, um zu wissen, dass es nicht akzeptabel ist, wenn jemand will, dass sie etwas mit ihrem Körper macht, bei dem sie sich unwohl fühlt.
Erica: Ich versuche, meiner Tochter nicht zu „helfen“, sie also nicht zu unterbrechen, wenn sie etwas alleine tun möchte. Wir lassen sie alleine essen und auch aus einer gesunden Auswahl aussuchen, was sie essen möchte. Das hört sich ein bisschen extrem an, aber ich finde es besser, mit ihr etwas zu tun als es nur für sie zu tun.
Selbst sehr kleinen Kindern versuchen die Eltern schon auf nonverbale und spielerische Art und Weise, diese wichtigen Lektionen beizubringen. Leider liegt die Ursache dafür oft in den eigenen Kindheitserfahrungen.
Cristina: Als frischgebackene Mutter – meine Tochter ist erst drei Monate alt – kann ich eigentlich noch nichts zu dem Thema sagen, aber wie sinnvoll und wichtig es ist, weiß ich, seit ich zum ersten Mal etwas zu sexuellem Einverständnis las: Mir fiel sofort der damalige Freund meiner Tante ein. Ich muss gerade erst vier gewesen sein, und trotzdem erinnere ich mich klar daran, dass ich jedes Mal, wenn ich ihn sah, furchtbare Angst hatte, weil er immer einen Kuss von mir haben wollte und ich ihm auch immer einen geben musste. Wenn ich „Nein“ sagte, lachten die Erwachsenen mich aus und sagten, ich solle nicht so schüchtern sein. Ich will nicht, dass meine Tochter irgendwann auch so unangenehme Erinnerungen hat, also werde ich ihr auf jeden Fall beibringen, dass es ihre Entscheidung ist, wen sie umarmen oder küssen will.
Daniel: Meine Frau und ich wollen mit unseren zwei Töchtern, die jetzt beide noch unter zwei Jahren alt sind, viel offener über Sexualität reden, als unsere Eltern das getan haben. Ich musste alles für mich selbst herausfinden und erzählte meinen Eltern nie etwas über mein Sexualleben – mit ihnen war es unmöglich, über so etwas offen zu reden, obwohl ein Pubertierender wahrscheinlich kaum etwas mehr braucht. Es war einfach zu peinlich. Und genau das wollen wir als Eltern jetzt vom Kopf auf die Füße stellen: Wir möchten ein Umfeld schaffen, in dem unsere Kinder ohne Scheu und Scham mit uns über Sexualität reden können. Als Elternteil ist die Sicherheit deines Kindes das Wichtigste für dich. Es ist völlig normal, deinen Kindern zu sagen, dass sie nach rechts und links schauen sollen, bevor sie über die Straße gehen, und wir hoffen, zu unseren Kindern eine Beziehung aufzubauen, in der man auch alle anderen Themen völlig normal besprechen kann. Klar werden wir auch über sexuelles Einverständnis sprechen. Aber ich hoffe sehr, dass das kein peinliches Aufklärungsgespräch wird, sondern dass wir ihr im Laufe der Jahre kontinuierlich helfen, zu einem starken, selbstbewussten Menschen zu werden, der für sich selbst und andere einsteht, seinen Körper liebt und weiß, dass dieser Körper nur ihm allein gehört. Das ist natürlich der Idealfall, und fast alle Eltern wissen, dass nicht immer alles ganz nach Plan verläuft. Aber selbst, wenn es uns dann doch peinlich sein wird, über Sex zu reden, werden wir es tun, denn wenn es um die Sicherheit meiner Kinder geht, ist das peinlichste Gespräch das wert.
Auch immer mehr Schulen nehmen sich des Themas an – und Eltern von Schulkindern tun alles, um das Konzept des sexuellen Einverständnisses zuhause noch zu verstärken.
Sarah: Mein Tochter ist acht Jahre alt, also reden wir hier noch von einer sehr einseitigen Perspektive, aber dieses Thema kann man nicht früh genug aufgreifen. In ihrer Grundschule gibt es ein Programm, dass sich „Talking about Touching“ nennt. Hier lernen die Kinder den Unterschied zwischen sicheren und unsicheren/ungewollten Berührungen und lernen die „Berührungsregeln“. Zuhause ist es ein bisschen komplizierter, aber auch ganzheitlicher, da wir ihr nicht nur beibringen wollen, mit Sexualität umzugehen, sondern auch mit allen anderen Herausforderungen des Lebens.
Hier sind unsere 5 wichtigsten Punkte:
- Ehrlichkeit, Vertrauen und Zuverlässigkeit: Wir gehen immer offen miteinander um, so dass sie nie Angst haben muss, mir zu erzählen, wenn etwas passiert.
- Empathie, Achtsamkeit: Ich bringe ihr bei, die Gefühle anderer zu respektieren und zu sehen, dass jede noch so kleine Tat für sie und die Gefühle der anderen Konsequenzen hat. Ich hoffe, dass sie dadurch achtsam wird im Hinblick auf die feinen Signale, die sie aussendet und empfängt.
- Innere Stärke/Selbstwertgefühl: Je stärker und selbstbewusster sie ist, desto weniger wahrscheinlich wird sie in eine Opferrolle fallen. Leider gibt’s da aber keine Garantie: Einige der stärksten Menschen, die ich kenne, wurden Opfer sexueller Nötigung – manchmal ist das Leben einfach scheiße.
- Beziehungen definieren: Ich glaube, es ist wichtig für sie zu lernen, dass es verschiedenen Arten von Beziehungen gibt – von familiären und platonischen über romantische bis hin zu professionellen – und zumindest jetzt schon unterbewusst zu verstehen, wie sich diese Beziehungen körperlich manifestieren.
- Selbstverteidigung für alle: Gewisse Selbstverteidigungsregeln kannst du Kleinkindern, Teenies und dir selbst beibringen, von körperlicher Verteidigung über Flucht bis hin zu reiner Achtsamkeit gegenüber deinen eigenen Handlungen und deinem Umfeld.