Wie mir das ständige Haarefärben emotional geholfen hat
Dass es unheimlich befreiend sein kann, die Haare radikal abzuschneiden, hat jeder schon mal gehört. Aber was macht eigentlich regelmäßiges Haarefärben mit uns? Unsere Autorin erzählt, warum sie süchtig nach dieser Art von Veränderung war.
Text: Jenna Igneri // Bild via NYLON.com
Seit Jahren färbe ich mir regelmäßig die Haare, aber erst vor kurzem wurde mir klar, wie sehr es ein Bewältigungsmechanismus ist. Mit 23 habe ich zum ersten Mal mein – wie ich es liebevoll nannte – „langweiliges, mausbraunes Haar“ in ein kühles Weiß-Blond umgebleicht und bin seitdem von einer verrückten Farbe zur nächsten gesprungen. Immer, wenn es an der Zeit war, meinen Ansatz nachzufärben, wählte ich einen neuen Ton und wurde dabei jedes Mal lauter und auffälliger. Letztendlich wurde diese ständige Veränderung meiner körperlichen Erscheinung ein fester Teil meiner Identität.
Von Außen wirkte das bestimmt, als hätte ich einfach einen riesen Spaß. Als wäre ich super witzig und sorglos. Abenteuerlustig, ein echtes Chamäleon. In mir drin jedoch sah es anders aus, denn in Wirklichkeit hatte ich das Gefühl, dass mein Leben ein einziges Chaos ist. Ich war gerade mitten in meinen Zwanzigern und auf mich allein gestellt. Ich fühlte mich verloren und ängstlich. Mein seelischer Zustand war nicht wirklich stabil. Dieses Gefühl des Kontrollverlusts manifestierte sich schließlich in meinen immer lebendiger werdenden Haarfarben.
Klar, für die meisten Menschen ist das Färben der Haare eine einfache, ästhetische Entscheidung. Aber für andere wiederum – wie zum Beispiel mich – hat es viel mehr Bedeutung und war weniger durch eine Laune, sondern vielmehr durch meine aufgewühlte Gefühlswelt motiviert. Tara Wells, Motivations-Psychologin und Barnard-Professorin, sagt dazu:
„Die Haare mögen wie ein unwichtiger Aspekt des Aussehens erscheinen, aber Studien zeigen, dass unser Haar eine zentrale Rolle für unsere Identität spielt. Es spiegelt wider, wie wir uns selbst sehen und wie wir von anderen wahrgenommen werden wollen. Die Kontrolle über diesen Teil unseres Aussehens zu haben, ist ein wichtiger Bestandteil unseres allgemeinen Selbstvertrauens und Selbstwertgefühls. Eine Veränderung der Haarfarbe mag als oberflächliche Handlung erscheinen, kann aber auf eine massive Veränderung im Inneren hinweisen. Das Ändern der Haarfarbe kann eine Möglichkeit sein, das Leben in eine neue Richtung zu lenken, um mehr Selbstvertrauen durch die Darstellung der eigenen Person zu erlangen. Eine so große Veränderung im Aussehen wie eine neue Haarfarbe kann ein neues Kapitel im Leben aufschlagen. Es kann zum Beispiel nach einer Trennung oder einem Jobwechsel eine Botschaft an die Welt senden: Ich erfinde mich mal wieder neu.“
Wenn das so ist, habe ich wohl alle sechs Wochen ein neues Kapitel in meinem Leben aufgeschlagen. Und nach weiteren sechs Wochen das nächste. Und so weiter, wieder und wieder. Jede Veränderung gab mir einen Boost an Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl – eine schnelle, aber doch nur vorübergehende Lösung für meine Angstzustände und Depressionen. Mit jeder neuen Schattierung wurde ich ein anderer Mensch und war wieder in der Lage, mich von vorn der Welt zu stellen. Die Tatsache, dass dies alles am Anfang meiner Karriere und im Erwachsenenalter begann, ist kein Zufall. Denn neben dem Versuch, mich besser auszudrücken und meinen Platz in der Welt zu finden, rebellierte ich gegen die Vorgabe, jetzt zu den Erwachsenen gehören zu müssen.
Natürlich schlug immer wieder die Realität zu. Und zwar immer dann, wenn die glänzende Farbe zu verblassen begann. Dann fühlte ich mich erneut, als wäre ich verloren und wusste nicht mehr, wohin ich gehörte. Zeit, wieder den Weg zum Waschbecken anzutreten.
Jahrelang ging es nach diesem Muster weiter. Irgendwann bin ich dann vom selbstständigen Bleichen in einen Salon gewechselt (btw, falls ihr mal in NYC seid: David Adams bei FourteenJay ist ein Genie). Dabei bin ich eine Entwicklung von kühlen Pastellfarben hin zu lebhaften Neon-Nuancen durchlaufen und habe damit wirklich das gesamte Spektrum des Regenbogens abgedeckt. Hey! Neben dem ganzen Mist, der in mir drin vor sich ging: immerhin meine Haare sahen großartig aus.
In letzter Zeit jedoch hat sich all das etwas beruhigt, sowohl in Bezug auf meine Haarfarbe als auch mein Leben im Allgemeinen. Mit dem Gefühl, einen sichereren Platz in der Welt zu haben, hat sich auch das Bedürfnis verringert, ständig mein Aussehen zu verändern. Mir wurde klar, dass es Zeit ist, buchstäblich zu den wahren Wurzeln meines Ich zurückzukehren.
Jetzt, im Alter von 28, bin ich wieder bei meinem langweiligen, mausgrauen Braun – okay, ich habe es ein wenig dunkler färben lassen und trage dazu einen Mikropony. Aber ich habe mich niemals mehr wie ich selbst gefühlt als jetzt und bin dabei sogar glücklich.
Wenn ich jetzt zurückblicke, sind meine Haare für mich ein wenig zu einer „physischen Zeitleiste“ geworden. Ich kann ein altes Foto ansehen und mich daran erinnern, wo ich an diesem oder jenem Punkt in meinem Leben war. Keine schlechte Sache, auch, wenn einige der Erinnerung nicht so schön sind. Es gibt da zum Beispiel das „kaum-aus-dem-Bett-zu-kriegen-Lavendel“ von Ende 2015 oder das „high-on-life-Türkis“ von Anfang 2016. Der Anblick von Navy Blue katapultiert mich zurück in einen Summer Of Love mit einem immernoch liebenswürdigen Ex, während Immergrün mich an die Zeit erinnert, als ich endlich den Mut fasste, den Job zu kündigen, den ich hasste. Meine Reise der Farben liest sich im Nachhinein wie ein buntes Spektrum von Erfahrungen. Auch, wenn einige der Schattierungen nicht nur buchstäblich, sondern auch metaphorisch dunkel waren.
Klar ist aber, dass jede Farbe eine neues Gefühl von Vertrauen, ein neues Persönlichkeitsmerkmal, ein neues Alter Ego und eine neue Art zu handeln gebracht hat. Wenn auch nur vorübergehend, genau wie ein Regenbogen am Himmel – oder eben in meinem Haar.