Trend: Buzz Cut
Man sieht sie jetzt immer öfter: Mutige, wunderschöne Frauen und ihre Buzz Cuts. Vier Frauen berichten, warum sie sich zu kurz bekennen.
Text: Jenna Igneri
Wenn man genauer hinschaut, hat der weibliche Stoppelhaarschnitt im Laufe der letzten Jahre ordentlich an Popularität gewonnen und ist auf immer mehr Köpfen zu sehen – weit mehr als wir zählen können. Allein in 2017 trauten sich einige einflussreiche Promis den radikalen Schritt – entweder für eine Filmrolle oder aus persönlichen Gründen. Aber schon lange bevor Prominente den Look populär machen, trugen Frauen auf unterschiedlichen Lebenswegen konsequent kurz – über den Trendfaktor hinaus unter anderem auch aus politischen oder aktivistischen Gründen.
Während viele mit diesem Look eine rebellische Punk-Rock-Attitüde assoziieren, ist er vielmehr ein historisches Symbol in der Queer- oder Farbigen-Kultur, als Ausdruck im Kampf um Gender-Normen oder feministische Ideen. Insbesondere farbige Idole wie Grace Jones oder Pat Evans gelten als Vorreiterinnen und stellten das klassisch-weibliche Schönheitsideal damit auf den Prüfstand. Evans, eines der größten (und bestbezahlten) Models der 70er Jahre, trug ihren Schädel kahl rasiert als Anti-Statement gegen eine Industrie, welche die Schönheitswerte farbiger Frauen nicht akzeptierte. In einem Interview mit Ben Arogundade, Autor von Black Beauty, erklärt Evans, wie unwohl sie sich mit den Normen der Branche fühlte, die lange Haare einforderte, und damit einhergehend mit dem Druck auf schwarze Frauen, dieser Norm zu entsprechen. Sich den Schädel zu rasieren war ihr Weg, ihren Protest zum Ausdruck zu bringen.
Raspelkurze Haare wurden auch lange Zeit mit der Queer-Kultur assoziiert, im Kampfe gegen heterosexuelle Schönheitsideale. Die Autorin June Thomas erklärt, obwohl nicht jede ‚queere’ Frau kurze Haare trägt und nicht jede Frau mit kurzen Haaren queer ist, wird dieser Haarschnitt im Allgemeinen mit einer queeren Identität assoziiert. In einem Artikel in The Advocate geht sie davon aus, dass Kurzhaarschnitte als ein ‚lesbisches Ritual der Befreiung’ fungieren, als Statement queerer Frauen ihre Gesinnung zum Ausdruck zu bringen. Nicht alle Kurzhaarschnitte sind dabei radikal raspelkurz und doch ist der typische ‚Buzz Cut’ eine allgemein sehr beliebte Variante.
Es war ein langer Weg ab dem Zeitpunkt als der ‚Buzz Cut’ ein selten gesehenes Phänomen war, vorbehalten für die Schwarzen- oder Queer-Kultur. Noch immer ist der Look historisch derart verankert und doch sieht man ihn an immer mehr unterschiedlichen Frauen als Ausdruck ihres persönlichen Lebensweges – erzählt über die Frisur. Wir haben mit vier Frauen gesprochen, die sich zu ‚kurz’ bekennen, außerdem mit zwei Psychologen, um der heutigen Popularität des ‚Buzz Cut’-Phänomens auf die Spur zu kommen.
Vor dem Hintergrund der Loslösung von klassischen Rollenbildern bis hin zu anhaltend unbeständigen politischen Verhältnissen, gewinnt der Buzz Cut eine neue Bedeutung für Frauen aller Kulturen und gesellschaftlicher Hintergründe. „Nachdem ich mir dem Schädel rasiert hatte, fand ich mich immer besonders sexy, selbstbewusst und kraftvoll“, sagt Clara Rae Natkin, eine Visagistin und Künstlerin, die mit ihrer Haarlänge spielt, seit sie 18 Jahre alt ist. Vom zerzausten Pixie bis hin zur konsequenten Stoppelfrisur – ihr Entscheidung waren immer emotional motiviert. „Es war mir stets ein Anliegen, mein inneres Empfinden über mein Äußeres zum Ausdruck zu bringen“, sagt sie. „Ich wollte mein Leben verändern und der schnellste Weg zu einer sichtbaren äußeren Veränderung war ein radikaler neuer Haarschnitt.“
Für Natkin kam die Veränderung auf ihrem Kopf einer Art Wiedergeburt gleich. Während sie vom zweiten Mal spricht, als sie ihr Haar radikal kurz rasierte, erzählt sie: „Ich fühlte mich, als müsse ich noch einmal von vorne anfangen und mich in eine Art ‚Fötus-Modus’ begeben – um in der Lage zu sein, mein Leben zu verändern, komplett ohne Haare und Make-up, komplett rein. Der kahle Schädel war für mich eine Art Schutzschild gegen die Welt. Inzwischen lasse ich meine Haare wieder wachsen, denn ich habe eine andere Stufe meines Lebens erreicht, fühle, dass ich sanfter und weicher werden möchte – auch mit mir selbst.“
Gleichzeitig empfinden andere es als emotional sehr befreiend, sich die Haare komplett zu rasieren. Cherie Camacho, Geschäftsführerin bei Glossier, fühlte sich niemals abhängig von ihren Haaren und schnitt sie sich ab, weil sie Lust dazu hatte. „Eines Tages nach der Arbeit habe ich mir in meinem Badezimmer einen Pixie verpasst. Ich stand vorm Spiegel mit einer Handwerker-Schere und schnippelte los. Ich zögerte keine Sekunde, es kam einer Katharsis gleich“, berichtet sie. Vielleicht verwandelt sie ihren DIY-Pixie auch bei einem Frisör in einen vollendeten ‚Buzz Cut’, definitiv möchte sie weiterhin kurz tragen. „Ich habe mich noch nie im Leben sexier gefühlt! Ich fühle mich so stark wie nie zuvor. Endlich kann ich mich selbst lieben.“
Vijayeta Sinh PhD, Psychologin und Inhaberin von NYC Family erklärt, dass Menschen ihrer Körper manchmal als Mittel zur Kommunikation einsetzen, insbesondere wenn sie Schwierigkeiten haben, die richtigen Worte zu finden. Eine drastische Veränderung wie ein rasierter Schädel kann sehr befreiend sein und das Leben verändern. (Und nein, sie hat keinen ‚Britney Spears in 2007 Moment’ – vergesst das ganz schnell.) Abgesehen von der emotionalen Bedeutung kann das Bekenntnis einer Frau zu einer bestimmten Art die Haare zu tragen auch politisch motiviert sein. Sinh sagt, dass dieses Verhalten stellvertretend für einen ‚erhobenen Mittelfinger’ gegen geschlechtsspezifische Normen von Weiblichkeit und Schönheit steht.
Die klinische Psychologin Leslie Carr erklärt: „Das weibliche Haar steckt voller Symbolik. Oft ist es Ausdruck von femininer Stärke und persönlicher Ausdruckskraft, aber es ist auch tief im Patriarchat verankert. Frauen empfangen oft bestimmte Botschaften, zum Beispiel dass Männer Frauen mit langen Haaren bevorzugen – was – wie Psychologen und Evolutionsforscher kolportieren, wiederum daran liegt, dass lange Haare ein Symbol für Fruchtbarkeit sind. Älteren Frauen hingegen wird oft suggeriert, ihre Haare kurz zu tragen, weil sie in ihrem Alter kein Recht mehr auf langes und frei fallendes Haar haben. Haare sind etwas sehr Persönliches für Frauen und außerdem etwas sehr Politisches.“
Die Fotografin Lydia Hudgens bestätigt Carrs Theorie. Hudgens hat lange Zeit mit ihren Haaren herumexperimentiert und alle möglichen Frisuren versucht, aber eines Tages, an einem internationalen Frauentag, wachte sie auf und empfand den Drang, sich die Haare komplett abzuschneiden. „Wenn man sich überlegt, welchen Bedingungen wir ausgesetzt waren, von unseren Rechten beschnitten, dazu das politische Klima, fühlte sich dieser Schritt plötzlich absolut angemessen an“, sagt sie, „befreiend und erlösend zugleich.“
Alarmierend daran (wenngleich nicht überraschend) sind in Hudgens Fall die vielfältigen männlichen Reaktionen. „Entweder sie liebten oder sie hassten es, aber in jedem Fall mussten sie ihre Meinung kundtun – oder mir unbedingt sagen wie toll ich mit vollem Haar aussehen würde“, berichtet sie weiter. Das polarisierende Feedback wurde derart zu einer Regelmäßigkeit, dass sie einen Instagram-Account startete um den Hass- und Fetisch-Nachrichten, die sie erhielt etwas entgegen zu setzen. Abgesehen von unerwünschtem Feedback bleibt Hudgens selbstbewusst, denn sie ist sich ihrer selbst sehr nah, außerdem, wie sie meint, bemerkenswerter ohne Haare. Damit einhergehend fühlt sie sich außerdem befreit von bestehenden Gender-Normen. „Ich liebe es mit meinem Look zu experimentieren, aber ich bin es satt auf ein typisch weibliches Schönheitsideal festgelegt zu werden. In unseren Zeiten und in meinem Alter möchte ich mich als glücklich und erfolgreich definieren über das was ich tue, anstatt mir über mein Äußeres zu viele Gedanken zu machen, um wiederum andere zufrieden zu stellen, worauf es, wie ich finde, am Ende hinausläuft.“
Ein anderer wichtiger Aspekt der weiblichen Glatze ist der Umstand, dass nicht alle Frauen sich diesen Look freiwillig aussuchen. Vielen Frauen, die an Krebs leiden, bleibt nichts anderes übrig als sich nach einer Chemotherapie die Haare abzurasieren. Andere Krankheiten, wie etwa bestimmte Formen von Haarausfall, haben den partiellen Haarverlust zur Folge. Der einzige Weg, dieses Problem zu lösen ist, sich alle Haare abzurasieren. Lucy Swope, Soziologin und Sängerin von GHOST COP wiederum, musste ihre Haare aus gesundheitlichen Gründen abschneiden. Nachdem sie jahrelang regelmäßig ihre Haare blondiert oder gefärbt hatte, kam sie an einen Punkt, an dem ihre Kopfhaut ständig schmerzte und sich extrem unangenehm anfühlte. Nach einem intensiven Allergietest stellte man fest, dass drei ihrer sechs Allergien durch Chemikalien ausgelöst wurden, die man in Blondierungen, Färbemitteln, Shampoos oder Spülungen findet, und sie entschied, sich eine Glatze zu rasieren – ihr Freund (und Bandmitglied) filmte den Prozess, das Ergebnis wollen sie als Teil eines Musikvideos nutzen. Swope fand das Resultat besser als erwartet. Wenn man sie fragt, ob sie nach dem Sprung ins kalte Wasser schockiert war, antwortet sie mit ‚Nein’ und ist selbst überrascht. „Ich dachte es würde mich schockieren – ich bereitete mich sogar darauf vor – aber es war überhaupt kein Schock“, sagt sie. „Ich dachte mir sogar, dass ich es hätte schon viel früher tun sollen.“ Obwohl der neue Haarschnitt nur aus medizinischen Gründen realisiert wurde, genoss sie es umso mehr, dass sie damit „geschlechtsspezifische Erwartungen herausforderte“.
Auch wenn es derzeit unter Celebrities Trend ist, kann man den weiblichen Stoppelschnitt nicht mit anderen kurzweiligen Frisuren-Trends wie einem 70er-Jahre-Pony oder einer Dauerwelle gleichsetzen. Er ist eine der intensivsten Ausdrucksformen von weiblicher Stärke – angefangen bei seinen Wurzeln in der Schwarzen- und Queer-Kultur über seine Funktion als Mittel für Frauen über ihr Äußeres ein Statement zu formulieren oder wieder zu sich zu finden bis hin zum Umgang mit Krankheiten.
Darüber hinaus formuliert der ‚Buzz Cut’ ein explizites ‚Fuck you’ in Richtung nach wie vor existierender Gender-Prinzipien. Und daran ist überhaupt nichts auszusetzen.