Rapperin Leaf über neue Musik und Pussy Power
Alles, was ihr über die „verdammte galaktische Prinzessin aus einer anderen Generation“ wissen müsst.
Text: Lisa Butterworth / Fotos: Anairam / Styling: Marc Anthony George / Hair: Eloise Cheung / Kate Ryan Inc. (using Amika) / Make-up: Hiro Yonemoto / Atelier Management (using MAC)
Jacke: BWood, Hoodie: Adrienne Landau, Sweatshirt & Sweathose: Rocawear über Freak City L.A., Sneakers: Puma; Ohrringe & Brille: Leaf's Own
Leaf steht jeden Morgen um fünf Uhr auf, meditiert zweimal täglich und lehnt – als wir sie an einem sonnigen Sonntag in einem veganen Restaurant in West Hollywood treffen – höflich den Lunch ab, da sie sich gerade mitten in einer Saftkur befindet. Vielleicht nicht ganz der Lebensstil, den man von einer aufstrebenden Rapperin, Sängerin und Produzentin erwarten würde, deren jüngste Single „Nada“ von Lil Yachty gefeatured wird und deren Debüt-Album „Trinity“ demnächst bei Fool’s Gold erscheint. Doch die 22-Jährige ist alles andere als erwartbar. Die Anfänge ihres Raps entstanden aus Poesie, die sie im Alter von acht Jahren zu schreiben begann und die hauptsächlich von „Natur und Liebe“ handelte, wie sie heute erzählt. „Ich dachte mir: ‚Ich nehme einfach meine Gedichte und lasse mich damit treiben.‘“ Mit 17 lud sie ihren ersten Song bei YouTube hoch und erregte damit die Aufmerksamkeit von Dave 1, Mitglied des Electro-Funk-Duos Chromeo. Der redete daraufhin so lange auf seinen jüngeren Bruder A-Trak ein (ganz zufällig Gründer der Plattenfirma Fool’s Gold), bis dieser Leaf unter Vertrag nahm. Mittlerweile drehen sich ihre Songs – gekennzeichnet von dunklen, jagenden Beats, tanzbaren Bässen und erhabenem Gesang, wie auf ihrer 2015er Debüt-EP „Magnet Bitch“ zu hören – um Sex, Geld, selbstverliebte Typen und Partys mit den Mädels. Stets durchdrungen von ihrer überzeugten feministischen Ideologie. Die ist es auch, die sie überhaupt zur Musik gebracht haben. „Ich habe immer schon Hip-Hop und Rap geliebt. Und ich wusste, dass ich dort mitmischen muss, weil es nicht genug weibliche Rapper gab“, sagt sie. „Das war eine Stimme, die ich für mich selbst schaffen wollte.“
Tatsächlich ist Leaf (deren eigentlicher Name Mikala Leaf McLean lautet) so etwas wie die zeitgenössische Oprah des Raps. Eine, die es zu ihrer Top-Priorität gemacht hat, das Selbstbewusstsein junger Frauen zu stärken und sie dabei zu unterstützen, ihre eigene Sexualität zu finden. Neben ihrer Musik gründete sie die „Magnet-Bitch“-Bewegung, eine Lifestyle-Marke sowie ein eigenes Musik-Label, das im Juni ein Mix-Tape von ausschließlich weiblichen Künstlern herausbringen wird. Aber vor allem bildete sie ein Kollektiv von Feministinnen, die Hatern eine Abfuhr erteilen und ihre eigenen Träume visualisieren möchten. So lange, bis sie sie erreicht haben. Oder in Leafs Worten: die alles „magnetisieren, was sie im Leben wollen“. Den Begriff „Bitch“ hat sie dabei nicht zufällig gewählt. „Worte verletzen nur, wenn du ihnen die Macht dazu gibst“, ist sie überzeugt. „Das ist es, was ich Mädchen vermitteln möchte. Ich möchte, dass sie ihre Power zurückbekommen und aus vollster Überzeugung schreien, weil sie sich so sehr lieben.“
Mantel: Adrienne Landau, Jacke: Studmuffin, Shirt: Stylist's Own, Schmuck: Leaf's Own
Nicht jede Feministin kann den Moment, in dem alles begann, so genau bestimmen. Leaf schon. Sie war 16, als eine „unangenehme“ sexuelle Erfahrung sie verwirrt und ausgenutzt zurückließ. „Ich hörte auf, Sex zu haben und fing an, Bücher zu lesen“, erinnert sie sich. Sie saß den ganzen Tag in der Buchhandlung „Barnes & Noble“, wo sie Jaclyn Friedmans Buch „What You Really Really Want: The Smart Girl’s Shame-Free Guide to Sex and Safety“ entdeckte (auf deutsch: „Was du wirklich wirklich willst: Der schamfreie Ratgeber über Sex und Sicherheit für schlaue Mädels“). „Es ging darum, dass Frauen Sex haben dürfen, dass sie ein Recht darauf haben, sexuell befriedigt zu werden, was der Unterschied ist zwischen Sex, der sich gut für dich anfühlt und Sex, der unangenehm für dich ist“, fasst Leaf zusammen. Sie verstand, wie entscheidend es für Mädchen ist, diesen Aspekt ihres Lebens zu verinnerlichen. „In einigen afrikanischen Ländern entfernen sie Frauen die Klitoris, weil sie nicht wollen, dass sie sexuelle Erfüllung in ihrem Leben erfahren. Das zeigt doch nur, wie mächtig wir sind. Habt ihr wirklich so viel Angst vor uns, dass ihr glaubt, wir würden die Macht an uns reißen, sobald wir zum Höhepunkt kommen? Und deshalb beschneidet ihr uns? ‚Pussy Power’ ist kein Witz, es ist real!“
Wir sitzen gemeinsam mit einigen sonnenverbrannten Touristen an einem Tisch. Leaf trägt säuregebleichte Jeans, kniehohe braune Stiefel und ein weißes, schulterfreies Top mit Wasserfallkragen. Ihr langes Haar ist rötlich-orange gefärbt, mit einem blonden Unterton, ihre Augenbrauen sind gebleicht, ihr Gesicht komplett ungeschminkt. Das einzige, was künstlich funkelt, ist der kleine Diamant auf ihrem linken oberen Schneidezahn. Ein leichter pfirsichfarbener Flaum schimmert auf ihrer Oberlippe. Alles andere als unbeabsichtigt: „Ich hörte auf, Make-up zu tragen, weil ich nicht will, dass Mädchen denken, sie müssten immer Make-up tragen. Und ich hörte auf, meine Gesichtshärchen zu waxen, weil ich nicht will, dass Mädchen denken, ihre Körperbehaarung sei falsch“, sagt sie, macht eine Pause und legt den Kopf schief. „Kannst du mir einen Gefallen tun und dieses Lied bei Shazam suchen?“, fragt sie. „Ich mag die Basslinie, sorry.“ Kein Grund sich zu entschuldigen. Sie hatte bereits erwähnt, dass sie in Gedanken immer bei der Arbeit ist und oft in den unpassendsten Momenten inspiriert wird (sie hat ein Telefon voller Sprachnotizen, um es zu beweisen). Und dass der Song, der da im Restaurant aus den Boxen dröhnt – „Lilly“ von „Toro y Moi“ – mitten im Satz ihre Aufmerksamkeit erregt, ist so bezeichnend für die Vielfältigkeit ihrer Einflüsse. Ihre persönlichen Idole sind sowohl Janet Jackson als auch Coco Chanel, ihre musikalischen Inspirationen reichen von Prince und Sade über Gwen Stefani bis zu Little Dragon.
Shirt & Anzug: Stylist's Own, Tasche: Leaf's Own.
Nicht weiter verwunderlich, wenn wir uns ihren Background näher anschauen: Geboren und aufgewachsen in New York (sie pendelt heute zwischen Brooklyn und Los Angeles), stammt Leaf aus einer musikalischen Familie. Ihr Urgroßvater war der berühmte Saxophonist Jackie McLean, ihr Großvater ebenfalls ein Jazzmusiker und ihr Vater, früher Break-Dancer und Sprayer, ist „Hip-Hop bis ins Mark.“ Ihre Mutter, ein „schwarzer Hippie“, zog ihre Tochter vegetarisch groß (Leaf lebt seit zwei Jahre vegan), schickte sie in Sommer-Yoga-Camps und entfachte in ihr die Liebe zu Jimi Hendrix, der Leaf dazu inspirierte, Gitarre zu lernen. Sie besuchte die berühmte New Yorker „Fiorello H. LaGuardia High School of Music & Art and Performing Arts“ (zu deren bemerkenswerten Alumni Al Pacino, Jennifer Aniston und Nicki Minaj zählen), wo sie klassische Musik und Oper lernte. Doch das starre System war nichts für sie. „Meine Schule hasste mich“, sagt sie und erinnert sich an die unzähligen Male, als sie erwischt wurde, wie sie Songtexte googlte, im Unterricht davon träumte, auf Tour zu gehen oder Klavierstunden schwänzte, um mit ihrem Cousin zu rappen. Aber selbst auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt zu werden, half ihr auf ihrem Karriereweg. Es bedeutete, Buchberichte schreiben zu müssen oder das Wörterbuch zu lesen. „Im Ernst: Ich bin auf Partys gegangen, kam sturzbetrunken nach Hause, und meine Eltern sagten: ‚Ok, Zeit, das Wörterbuch zu lesen.’“ Dies hat definitiv das Spektrum der Themen geprägt, über die Leaf mit beeindruckendem Wissen diskutieren kann. Aber auch wenn unser Gespräch zwischen alkalischem Wasser, der Bedeutung ihrer Lieblingszahl Drei („Es ist wie Tod, Wiedergeburt und Leben“) und Gandhis zivilem Ungehorsam hin und her springt, kommt es immer wieder auf weibliche Stärke zurück. „Wir müssen nur aufhören, uns so viel zu Herzen zu nehmen“, sagt sie und klingt plötzlich wie ein Motivationscoach. „Du musst damit anfangen, mehr positive Gedanken in deinem Kopf freizusetzen. Schau in den Spiegel und sag: ‚Ich bin eine verdammte galaktische Prinzessin aus einer anderen Generation‘“, lacht sie. „Sei einfach du selbst. Fühle dich selbst.“
Hier könnt ihr euch Leaf anhören: